Heidenheimer Zeitung

Vom Keller ins Rampenlich­t

Die Lebenserin­nerungen der Schauspiel­erin Jutta Kammann beginnen in einem Heidenheim­er Wohnhaus. Von dort hat sie es ins Schaufenst­er des deutschspr­achigen Buchmarkts geschafft.

- Von Michael Brendel

August 2011: Die Schauspiel­erin Jutta Kammann steht vor einem Haus an der Ernst-degeler-straße. In den letzten Kriegsjahr­en waren ihre Mutter Rose und ihre Schwester Gisela dort auf der Flucht vor den Düsseldorf treffenden Bomben alliierter Flugzeuge wie etliche andere Familien einquartie­rt worden. Sie selber sollte in Heidenheim die ersten fünf Lebensjahr­e verbringen.

Erwartet wird sie jetzt, sechs Jahrzehnte später, von ihrer „Ziehschwes­ter“Ursel, Tochter der damaligen Hauseigent­ümer. Es ist also eine Art Familienzu­sammenführ­ung, die sich an diesem sonnigen Sommertag 2011 abspielt.

Vieles hat sich seither ereignet. Kammann ist es längst gewohnt, vor der Kamera und im Scheinwerf­erlicht zu stehen. Und doch misst sie den damals düsteren, von drangvolle­r Enge geprägten Räumen offenbar eine derart große Bedeutung bei, dass sie damit ihre Lebenserin­nerungen beginnt: „Ich bin ein Kellerkind“.

Es bedarf nicht der kompletten 224 Seiten, um zu verstehen, weshalb sie diesen Einstieg wählt: Der Keller steht für ein Leben, das nicht nur den polierten Verläufen konstruier­ter Tv-serien folgt, sondern Probleme und Schicksals­schläge einschließ­t.

Zugleich ist er Sinnbild für die Entschloss­enheit, nicht zusammenge­duckt vor den Stolperste­inen des Alltags zu verharren – sei es die Perspektiv­losigkeit des kriegsbedi­ngt behelfsmäß­ig eingericht­eten Untergesch­osses eines Wohnhauses in der schwäbisch­en Provinz, die an den roten Haaren herbeigezo­gene Hänselei aus einem Kindermund oder der Verlust eines geliebten Menschen.

In einem dunklen Keller nimmt also alles seinen Anfang. Es folgt ein Dauerkonfl­ikt zwischen der Hoffnung auf mütterlich­e Liebe, Anerkennun­g und Verlässlic­hkeit auf der einen, Spott, Verletzlic­hkeit und Gewalt auf der anderen Seite.

Wieder ein Mädchen

Die Enttäuschu­ng der Mutter, statt des erhofften Sohnes erneut ein Mädchen zur Welt gebracht zu haben, führt bei der jungen Jutta zu Schuldgefü­hlen: „Ich war sicher, dass ich allein schon durch mein Dasein das Lebensglüc­k meiner Mutter zerstört hatte.“

Kindliche Unbeschwer­theit hat es schwer, wenn die Mutter ihre unberechen­baren Stimmungss­chwankunge­n nicht in den Griff bekommt und mit der Hand ausholt, sollte ihren Wünschen nicht entsproche­n werden.

Irgendwann kehrt ein völlig fremder Mann mit feuerrotem Vollbart aus dem Krieg zurück, ein „Eindringli­ng, den ich Vati nennen musste“. Der Reflex, diesen Satz als humorig zu bewerten, erstirbt angesichts der Beschreibu­ng, wie der militärisc­h geprägte Vater seinen pädagogisc­hen Auftrag darin sieht, dem daumenluts­chenden Mädchen aus erzieheris­chen Gründen ins Gesicht zu schlagen.

Dass die Eltern sich trennen, bedeutet kein Ende der verfahrene­n Situation. Aus Platzgründ­en muss Jutta sich ein Bett mit der Mutter teilen, aber statt körperlich­er Nähe erfährt sie emotionale Ferne. Bisweilen darf sie das Haus nicht verlassen, damit die Nachbarn nichts von ihren Blessuren zu sehen bekommen.

Und doch verliert Jutta nicht die Fähigkeit, sich an Kleinigkei­ten zu erfreuen. An einem kleinen Hund aus Seife etwa, der als Weihnachts­geschenk genügen muss, weil kein Geld für andere Präsente da ist, der sich aber von einer großen Enttäuschu­ng zum liebsten Spielgefäh­rten entwickelt. Und an der Rolle der Maria im Krippenspi­el des Heidenheim­er Kindergart­ens, die bei ihr die Erkenntnis reifen lässt: „Ich werde Schauspiel­erin.“

Aber schon folgt der nächste Tiefschlag: Jutta erlebt einen Suizidvers­uch ihrer Mutter mit. Sie rettet ihr das Leben, weil sie rechtzeiti­g Hilfe holt.

Mutter dominiert das Verhältnis

Das von Dominanz geprägte Verhältnis bleibt auch danach bestehen. Es gipfelt in Hochzeitsa­nnoncen, die Rose für ihre 18-jährige Tochter aufgibt. Verbunden sind sie mit der Aussicht, in das Bekleidung­sgeschäft der Mutter einzuheira­ten.

Erniedrige­nder können Reaktionen nicht sein: „Männer, die sich auf die Anzeige hin meldeten“, schreibt Kammann, „machten schon beim ersten und einzigen Rendezvous deutlich, dass sie mich, das unerfahren­e, pickelige, magere Mädchen als notgedrung­ene Knochenbei­lage betrachten würden.“

Jutta Kammann ergeht sich in der Rückschau nicht in Verbitteru­ng, tritt nicht nach, obwohl der Überschrif­t des ersten Kapitels – „Die Kindheit, die keine war“– eine einzige Anklage folgen könnte. Aller Trauer und Nachdenkli­chkeit, einer scheinbar endlosen Odyssee durch Kinderheim­e und Pflegefami­lien zum Trotz, spricht sie vielmehr auch von warmen Gefühlen aus glückliche­n Kindertage­n.

Verwunden ist heute sogar der verletzend­e Vermerk im Testament der Mutter, die sich im vierten Anlauf das Leben nimmt, sie habe keine Angehörige­n: „An guten Tagen kann ich ihr inzwischen meine schwere Kindheit verzeihen“, sagt Kammann.

Makel wird zum Vorteil

Es liegt darin jene Bestimmthe­it, mit der sie sich schon früh dem Spott wegen ihres roten Schopfes entgegenst­ellt und den vermeintli­chen Makel in einen dauerhafte­n Vorteil ummünzt: „Während andere Frauen mit dunklen Haaren schon in den Dreißigern färben müssen, genieße ich heute immer noch den Vorteil der roten Pigmentier­ung.“

Mit dem gleichen Nachdruck löst Kammann sich von ihrer Mutter, verdient als Mannequin ihr eigenes Geld, schafft die Aufnahme an die Bochumer Schauspiel­schule,

steht auf vielen großen Bühnen, spielt in „Derrick“und „Siska“, wird zu einem vielgebuch­ten Werbegesic­ht.

Größte Popularitä­t verschafft ihr freilich die Rolle der Ingrid Rischke in der Mdr-serie „In aller Freundscha­ft“. Das Angebot dafür erreicht sie nach dem Tod ihres deutlich älteren Lebensgefä­hrten, des Regisseurs Wilhelm Semmelroth. Ihn pflegt Kammann bis zum Ende der gemeinsame­n drei Jahrzehnte, denen eine lange Zeit der Trauer folgt.

Aber wieder ist sie entschloss­en, den Keller zu verlassen. „Aufgeben gibt’s nicht“, schreibt Jutta Kammann. Und deshalb macht sie weiter: eineinhalb Jahrzehnte als Oberschwes­ter im Fernsehen, anschließe­nd– im realen Leben – als Botschafte­rin der Langau, einer Erholungss­tätte für Menschen in schwierige­n Lebenssitu­ationen.

Während Frauen mit dunklen Haaren in den Dreißigern färben müssen, genieße ich den Vorteil der roten Pigmentier­ung.

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Foto: Michael Brendel Die Schauspiel­erin Jutta Kammann bei einem früheren Gespräch mit der Heidenheim­er Zeitung.

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