Roman Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 79)
Vielleicht war man einfach froh darüber, Róbert nicht zerstückelt im Fass vorgefunden zu haben. Aber die Schätzung, dass fünfzig Kilogramm Marihuana im Fass seien, wurde sogleich angezweifelt, denn es sei ein Sechzigliter-fass, wie Óttar wusste. Auch Saemundur sagte, dass das Fass keine vierzig Kilo schwer sein könne, schließlich hätten sie das Fass zu zweit auf den Pier hochhieven können. Also fassten Saemundur und Óttar an und stellten das Fass auf die Waage vor Saemundurs Container, wo normalerweise der Fischfang gewogen und registriert wurde. Sie ignorierten irgendwie, dass sie das Fass eigentlich nicht hätten anfassen sollen, wegen der Fingerabdrücke. Aber ich hielt mich da raus und guckte einfach zu, denn ich wollte mich wirklich nicht ein drittes Mal verdächtig machen.
Wie sich herausstellte, war das Bruttogewicht vierunddreißig Kilo, was die Leute veranlasste, das Gewicht des Fasses zu schätzen, bis Siggi die Leute daran erinnerte, dass das Taragewicht in den Fassboden gestanzt war, aber Saemundur ging jetzt dazwischen und sagte, wir sollten das verdammte Fass endlich in Ruhe lassen, und mehr hörte ich nicht, denn ich hatte so ein Fass schon einmal gesehen, und zwar ganz genau so ein Fass, aber ich wusste überhaupt nicht mehr, wo. Dann fiel mir ein, dass ich Nadja mitzuteilen hatte, was sich in dem Fass befand, und darum ließ ich die Hälfte der Bewohner von Raufarhöfn zurück und eilte rüber zum Hotel, hatte schon ein Kribbeln im Bauch. Es war die Vorfreude. Nadja würde große Augen machen. Ich beeilte mich, und Bragi rief mir noch hinterher: „Wohin denn so eilig, junger Mann?“Aber ich hatte keine Zeit für Erklärungen. Ich musste mein Versprechen halten. Aber damit war der verrückte Tag noch längst nicht zu Ende.
Arctica
Ich betrat das Hotel beim Haupteingang. Das Gebäude stammte noch aus den Zeiten des Heringsbooms, und als der Hering weg war, beschloss man, aus dem Gebäude, das bisher Arbeiter beherbergt hatte, ein Hotel für Touristen zu machen. An den Wänden hingen viele Schwarzweißfotografien aus den Zeiten des Heringsbooms. Da waren all die Schiffe zu sehen, die dichtgedrängt im Hafen lagen, Seite an Seite, so dass man über die ganze Bucht hätte spazieren können, ohne nasse Füße zu bekommen. Auch das Hotelgebäude war im Hintergrund einiger Bilder zu erkennen. In der Hotellobby standen noch so ein paar alte Holzfässer, in denen der gesalzene Hering in alle Welt verschifft worden war. Am Tresen der Rezeption war ein Fischernetz gespannt, worin sich Seesterne verfangen hatten. Da und dort waren Bojen zur Dekoration angebracht, und in einige waren sogar Glühbirnen hineingeschraubt, so dass sie leuchteten.
In der Lobby war niemand. Im Restaurant war auch niemand. Keine einzige Menschenseele. Ich blickte durch ein Fenster zum Hafen hinunter. Da standen die Leute noch immer um das mysteriöse Fass herum und unterhielten sich, lachten und schüttelten die Köpfe. Man hatte den Kaffeekrug und die leeren Plastikbecher darauf abgestellt, als wäre es ein Stehtischchen.
„Nadja!“, rief ich, aber niemand gab Antwort. Vielleicht war sie in der Küche, also ging ich in die Küche; Óttar war ja noch immer unten am Hafen. Auch die Küche war menschenleer. Ich ging die Treppe hinunter in den Keller zum Wäscheraum. Ich kannte mich im Hotel recht gut aus, eigentlich wie in den meisten Häusern in Raufarhöfn. So viele sind es ja nicht. Die Türen stehen hier immer offen. Niemand schließt ab, bis auf die alten Fabrikhallen, wo die Kinder von rostigen Treppen stürzen können. Auch die Autos sind nie abgeschlossen. In einigen stecken sogar die Zündschlüssel.
Unten im Keller war niemand. Als ich die Treppe hochkam, vernahm ich das Wummern des Küstenwache-hubschraubers, das ich inzwischen gut kannte. War er schon wieder zurückgekehrt? Im Hotelrestaurant guckte ich aus dem Fenster und sah, dass unten am Hafen gerade ein Polizeiauto vorfuhr. Birna war also wieder im Dorf und konnte sich nun um das Drogenfass kümmern. Ich war froh, dass sie wieder da war. Ich nahm die Treppe zu den Zimmern.