Die Rache der Ein-kind-politik
Weil immer weniger Kinder geboren werden, altert die Gesellschaft im bevölkerungsreichsten Land der Erde rasant. Für die wirtschaftliche Entwicklung ist das eine tickende Zeitbombe, die die Regierung mit verstärkter Automatisierung entschärfen will.
Wu Fang möchte zwar Nachwuchs. Doch noch überlegt die 30-Jährige, wann für sie der richtige Zeitpunkt ist, um ein Kind zu kriegen. „Viele Frauen in meinem Umfeld wollen zwar Kinder haben, aber nicht mehr als eins“, sagt Wu, die in Peking als Büroangestellte arbeitet: „Das hat vor allem mit den hohen Kosten zu tun. Und natürlich, dass man wegen der Arbeit kaum Zeit für die Erziehung hat.“
Immer mehr Chinesinnen, insbesondere in den großen Millionenstädten, denken ähnlich wie Wu Fang. Mit großer Sorge muss Pekings Staatsführung derzeit feststellen, dass die Bevölkerung zwar in den letzten Jahrzehnten mit drakonischen Maßnahmen zu einem einzigen Kind pro Familie gezwungen werden konnte. Doch im Gegensatz dazu lässt sich eine Anhebung der Geburtenrate nicht einfach so von oben anordnen.
Auch wenn die Behörden die Daten ihrer jüngsten Volkszählung noch vor der Öffentlichkeit geheimhalten, steht bereits jetzt fest: Noch nie seit rund 60 Jahren, also zur Zeit der großen Hungersnöte, haben die aktuell rund 1,4 Milliarden Chinesen weniger Kinder bekommen als jetzt. In mehreren Städten der wohlhabenden Ostküstenprovinz Zhejiang ist die Zahl an Neugeborenen gar um 20 Prozent zurückgegangen. Offiziell liegt die Geburtenrate in China bei durchschnittlich 1,8 Kindern pro Frau. Doch im März ging aus einem Papier der Zentralbank hervor, dass sich der tatsächliche Wert womöglich unter 1,5 befindet.
Hiobsbotschaft für die Volkswirtschaft
Zu Beginn der Woche sorgte die „Financial Times“mit einem Artikel für mediale Schockwellen, dass es erstmals zu einem Bevölkerungsrückgang gekommen sei. Die Regierung dementierte daraufhin umgehend, doch aus wirtschaftlicher Sicht lieferte auch sie keine guten Nachrichten: Bereits 2022 werde Chinas Einwohnerzahl schrumpfen, weitaus früher als erwartet. Die chinesische Akademie für Sozialwissenschaften hatte zuvor in ihren Prognosen geschätzt, dass der Wendepunkt in der Bevölkerungsentwicklung erst 2027 eintreten wird.
Natürlich ist dies für eine rasant anwachsende Weltgemeinschaft alles andere als eine Hiobsbotschaft. Für die chinesische Volkswirtschaft hingegen schon: Nichts bedroht das langfristige Ziel Chinas, die Vereinigten Staaten ökonomisch zu überholen, stärker als sein demographischer Wandel. „Sinkende Geburtenraten und die schnell alternde Bevölkerung werden in den nächsten Jahrzehnten einen starken Gegenwind für das Wachstum darstellen“, heißt es vom Beratungsinstitut „Trivium China“.
Von außen betrachtet könnte der Eindruck entstehen, dass sich Chinas Wirtschaft auf einer schier endlosen Überholspur befindet: Selbst im Corona-jahr ist das Bruttoinlandsprodukt angestiegen, für 2021 prognostizieren Experten gar ein Plus von rund acht Prozent. Nach Kaufkraftparitäten ist China bereits die größte Volkswirtschaft der Welt, weit vor den Vereinigten Staaten.
Doch der Blick auf das große Ganze relativiert Chinas Vorpreschen deutlich: Zum einen ist die – zweifelsohne beeindruckende – Erfolgsgeschichte der Volksrepublik keineswegs einmalig. Auch die Nachbarstaaten Südkorea und Taiwan haben bereits in den 70ern, 80ern und 90ern eine ähnlich rasante Transformation durchlaufen. Zum anderen befindet sich Chinas Volkswirtschaft nach wie vor auf niedrigem Niveau: Pro Kopf gerechnet müsste sich das BIP um den Faktor 2,6 erhöhen, nur um den Wohlstand Spaniens zu erreichen. Leicht lässt sich beim Anblick der futuristischen Metropolen wie Shanghai oder Shenzhen vergessen, dass nach wie vor weit über 600 Millionen Chinesen mit einem Monatsgehalt von unter 150 Euro zurecht kommen müssen. Wenn die gesellschaftliche Alterung dementsprechend früh einsetzt, wird die Staatsführung ihre langfristige Vision von einer „moderat wohlhabenden“Gesellschaft nur schwer erreichen können.
Die demographische Zeitbombe liegt nicht zuletzt in der traumatischen Vergangenheit des Landes begründet. Bis vor fünf Jahren galt in China nach wie vor eine drakonische Ein-kind-politik, die mittlerweile relativ übereinstimmend als große Gräueltat gewertet wird. Denn zum einen führte die Maßnahme zu unzähligen Zwangsabtreibungen und einem Männerüberschuss von über 30 Millionen Chinesen. Mehr noch hat sich die fehlgeleitete Politik rückblickend als absolut kontraproduktiv herausgestellt: Denn auch wenn Chinesinnen mittlerweile längst zwei Kinder haben dürfen, wollen sie es schlicht nicht mehr. Als Hauptgründe werden die hohen Wohnkosten in den Städten sowie immense Ausgaben für die Schulbildung genannt. Mit dem wirtschaftlichen Fortschritt tritt also jene Abflachung der Geburtenkurve ein, die auch bereits in westlichen Ländern zu beobachten ist.
Die staatlichen Medien versuchen auf Anweisung Pekings mit ihrer berüchtigten „Lenkung der öffentlichen Meinung“gegenzusteuern. Sie propagieren zunehmend traditionelle konfuzianische Familienwerte und preisen Frauen in ihrer Mutterrolle. Kinder zu gebären, wird so zum patriotischen Akt stilisiert. Dies gilt jedoch vor allem für Han-chinesen, die die ethnische Mehrheit der Bevölkerung darstellen. In der Region Xinjiang, wo die muslimische Minderheit der Uiguren lebt, ist die Zahl mutmaßlicher Zwangssterilisierungen in den letzten Jahren laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen drastisch gestiegen.
Gleichzeitig werden auch Feministinnengruppen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, die in ihren Internetforen Kinderlosigkeit als Wunschideal propagieren. Immer wieder löschen die Zensoren entsprechende Accounts auf sozialen Medien.
Trotzdem spiegelt sich in der demographischen Transformation auch ein fundamentaler Wertewandel wider: Im letzten Jahr haben nur 8,1 Millionen Paare geheiratet, der niedrigste Wert seit fast zwei Jahrzehnten. Junge Frauen sehen es nicht mehr als Muss an, einen Ehemann zu finden. Laut einer aktuellen Umfrage eines Job-rekrutierungsportals war der mit Abstand meistgenannte Grund, nicht heiraten zu wollen, dass es „die Lebensqualität reduziere“.
Eine weitere Studie der Dating-app „Tantan“– eine Art chinesisches „Tinder“– liefert noch erstaunlichere Resultate: Unter 3000 befragten „Millennials“gab eine Mehrheit der Männer an, dass sie ab einem gewissen Alter auch dann heiraten würden, wenn sie bis dahin noch keine Wunschpartnerin gefunden hätten. Die Frauen hingegen sagten zu 65 Prozent, dass sie nur in einer „hochqualitativen Beziehung“die Ehe eingehen würden. 41 Prozent stimmten zudem zu, dass es akzeptabel sei, als Single alt zu werden. Das ist beachtlich, da alleinstehende Frauen in den patriarchalen Gesellschaften Ostasiens systematisch als „übriggeblieben“stigmatisiert werden.
Weiter keine Migration
Die chinesische Staatsführung versucht mit hohen Investitionen ins Bildungssystem und in die Kinderfürsorge, der sinkenden Geburtenrate entgegenzusteuern – bislang jedoch mit wenig Erfolg. Dass Pekings Wirtschaftsplaner die Überalterung durch Migration kompensieren könnten, scheint nahezu ausgeschlossen. Denn Ausländer bedeuten für die kontrollwütige bis teils nationalistische Staatsführung eine potenzielle Bedrohung für die „gesellschaftliche Stabilität“. Auf die Bevölkerungsgröße von 1,4 Milliarden Menschen hochgerechnet gibt es kaum ein Land weltweit, das weniger Ausländer beheimatet als China.
Das Rentenalter anzuheben wird ebenfalls eine schwer zu bewältigende Mammutaufgabe. Denn zum einen sind die Pensionskassen leer, und zum anderen hängen die meisten jungen Familien von den Großeltern ab, die sich um die Kinderbetreuung kümmern müssen.
Stattdessen setzen die Staatsführung – und auch etliche Tech-unternehmen – auf eine noch offene Wette: Mit künstlicher Intelligenz und hochgradiger Automatisierung sollen die bald knapp werdenden Arbeitskräfte kompensiert werden. Noch stecken die Bemühungen in den Kinderschuhen, jedoch werden sie zunehmend ambitionierter: So werden bereits Roboter in Restaurantküchen und in Hotellobbys eingesetzt, auch „smarte“Fabriken fungieren in China zunehmend autonom. Der Bedarf für die Technologie wäre schon bald hinlänglich gegeben: Bis Ende des laufenden Jahrzehnts wird die Anzahl an Arbeitskräften in China jährlich um gut 0,5 Prozent sinken.
Unter Beobachtern hat sich längst ein Sprichwort eingebürgert: In China geht es nicht so sehr darum, dass die Gesellschaft einen gewissen Wohlstand erreicht, ehe sie altert – sondern ob die Wirtschaft ausreichend automatisiert ist, ehe ihr die Arbeitskräfte ausgehen.
Viele Frauen in meinem
Umfeld wollen zwar Kinder haben, aber nicht mehr als eins.
Wu Fang
30-Jährige aus Peking