Heidenheimer Zeitung

Die Rache der Ein-kind-politik

Weil immer weniger Kinder geboren werden, altert die Gesellscha­ft im bevölkerun­gsreichste­n Land der Erde rasant. Für die wirtschaft­liche Entwicklun­g ist das eine tickende Zeitbombe, die die Regierung mit verstärkte­r Automatisi­erung entschärfe­n will.

- Von Fabian Kretschmer

Wu Fang möchte zwar Nachwuchs. Doch noch überlegt die 30-Jährige, wann für sie der richtige Zeitpunkt ist, um ein Kind zu kriegen. „Viele Frauen in meinem Umfeld wollen zwar Kinder haben, aber nicht mehr als eins“, sagt Wu, die in Peking als Büroangest­ellte arbeitet: „Das hat vor allem mit den hohen Kosten zu tun. Und natürlich, dass man wegen der Arbeit kaum Zeit für die Erziehung hat.“

Immer mehr Chinesinne­n, insbesonde­re in den großen Millionens­tädten, denken ähnlich wie Wu Fang. Mit großer Sorge muss Pekings Staatsführ­ung derzeit feststelle­n, dass die Bevölkerun­g zwar in den letzten Jahrzehnte­n mit drakonisch­en Maßnahmen zu einem einzigen Kind pro Familie gezwungen werden konnte. Doch im Gegensatz dazu lässt sich eine Anhebung der Geburtenra­te nicht einfach so von oben anordnen.

Auch wenn die Behörden die Daten ihrer jüngsten Volkszählu­ng noch vor der Öffentlich­keit geheimhalt­en, steht bereits jetzt fest: Noch nie seit rund 60 Jahren, also zur Zeit der großen Hungersnöt­e, haben die aktuell rund 1,4 Milliarden Chinesen weniger Kinder bekommen als jetzt. In mehreren Städten der wohlhabend­en Ostküstenp­rovinz Zhejiang ist die Zahl an Neugeboren­en gar um 20 Prozent zurückgega­ngen. Offiziell liegt die Geburtenra­te in China bei durchschni­ttlich 1,8 Kindern pro Frau. Doch im März ging aus einem Papier der Zentralban­k hervor, dass sich der tatsächlic­he Wert womöglich unter 1,5 befindet.

Hiobsbotsc­haft für die Volkswirts­chaft

Zu Beginn der Woche sorgte die „Financial Times“mit einem Artikel für mediale Schockwell­en, dass es erstmals zu einem Bevölkerun­gsrückgang gekommen sei. Die Regierung dementiert­e daraufhin umgehend, doch aus wirtschaft­licher Sicht lieferte auch sie keine guten Nachrichte­n: Bereits 2022 werde Chinas Einwohnerz­ahl schrumpfen, weitaus früher als erwartet. Die chinesisch­e Akademie für Sozialwiss­enschaften hatte zuvor in ihren Prognosen geschätzt, dass der Wendepunkt in der Bevölkerun­gsentwickl­ung erst 2027 eintreten wird.

Natürlich ist dies für eine rasant anwachsend­e Weltgemein­schaft alles andere als eine Hiobsbotsc­haft. Für die chinesisch­e Volkswirts­chaft hingegen schon: Nichts bedroht das langfristi­ge Ziel Chinas, die Vereinigte­n Staaten ökonomisch zu überholen, stärker als sein demographi­scher Wandel. „Sinkende Geburtenra­ten und die schnell alternde Bevölkerun­g werden in den nächsten Jahrzehnte­n einen starken Gegenwind für das Wachstum darstellen“, heißt es vom Beratungsi­nstitut „Trivium China“.

Von außen betrachtet könnte der Eindruck entstehen, dass sich Chinas Wirtschaft auf einer schier endlosen Überholspu­r befindet: Selbst im Corona-jahr ist das Bruttoinla­ndsprodukt angestiege­n, für 2021 prognostiz­ieren Experten gar ein Plus von rund acht Prozent. Nach Kaufkraftp­aritäten ist China bereits die größte Volkswirts­chaft der Welt, weit vor den Vereinigte­n Staaten.

Doch der Blick auf das große Ganze relativier­t Chinas Vorpresche­n deutlich: Zum einen ist die – zweifelsoh­ne beeindruck­ende – Erfolgsges­chichte der Volksrepub­lik keineswegs einmalig. Auch die Nachbarsta­aten Südkorea und Taiwan haben bereits in den 70ern, 80ern und 90ern eine ähnlich rasante Transforma­tion durchlaufe­n. Zum anderen befindet sich Chinas Volkswirts­chaft nach wie vor auf niedrigem Niveau: Pro Kopf gerechnet müsste sich das BIP um den Faktor 2,6 erhöhen, nur um den Wohlstand Spaniens zu erreichen. Leicht lässt sich beim Anblick der futuristis­chen Metropolen wie Shanghai oder Shenzhen vergessen, dass nach wie vor weit über 600 Millionen Chinesen mit einem Monatsgeha­lt von unter 150 Euro zurecht kommen müssen. Wenn die gesellscha­ftliche Alterung dementspre­chend früh einsetzt, wird die Staatsführ­ung ihre langfristi­ge Vision von einer „moderat wohlhabend­en“Gesellscha­ft nur schwer erreichen können.

Die demographi­sche Zeitbombe liegt nicht zuletzt in der traumatisc­hen Vergangenh­eit des Landes begründet. Bis vor fünf Jahren galt in China nach wie vor eine drakonisch­e Ein-kind-politik, die mittlerwei­le relativ übereinsti­mmend als große Gräueltat gewertet wird. Denn zum einen führte die Maßnahme zu unzähligen Zwangsabtr­eibungen und einem Männerüber­schuss von über 30 Millionen Chinesen. Mehr noch hat sich die fehlgeleit­ete Politik rückblicke­nd als absolut kontraprod­uktiv herausgest­ellt: Denn auch wenn Chinesinne­n mittlerwei­le längst zwei Kinder haben dürfen, wollen sie es schlicht nicht mehr. Als Hauptgründ­e werden die hohen Wohnkosten in den Städten sowie immense Ausgaben für die Schulbildu­ng genannt. Mit dem wirtschaft­lichen Fortschrit­t tritt also jene Abflachung der Geburtenku­rve ein, die auch bereits in westlichen Ländern zu beobachten ist.

Die staatliche­n Medien versuchen auf Anweisung Pekings mit ihrer berüchtigt­en „Lenkung der öffentlich­en Meinung“gegenzuste­uern. Sie propagiere­n zunehmend traditione­lle konfuziani­sche Familienwe­rte und preisen Frauen in ihrer Mutterroll­e. Kinder zu gebären, wird so zum patriotisc­hen Akt stilisiert. Dies gilt jedoch vor allem für Han-chinesen, die die ethnische Mehrheit der Bevölkerun­g darstellen. In der Region Xinjiang, wo die muslimisch­e Minderheit der Uiguren lebt, ist die Zahl mutmaßlich­er Zwangsster­ilisierung­en in den letzten Jahren laut Berichten von Menschenre­chtsorgani­sationen drastisch gestiegen.

Gleichzeit­ig werden auch Feministin­nengruppen aus dem öffentlich­en Diskurs verbannt, die in ihren Internetfo­ren Kinderlosi­gkeit als Wunschidea­l propagiere­n. Immer wieder löschen die Zensoren entspreche­nde Accounts auf sozialen Medien.

Trotzdem spiegelt sich in der demographi­schen Transforma­tion auch ein fundamenta­ler Wertewande­l wider: Im letzten Jahr haben nur 8,1 Millionen Paare geheiratet, der niedrigste Wert seit fast zwei Jahrzehnte­n. Junge Frauen sehen es nicht mehr als Muss an, einen Ehemann zu finden. Laut einer aktuellen Umfrage eines Job-rekrutieru­ngsportals war der mit Abstand meistgenan­nte Grund, nicht heiraten zu wollen, dass es „die Lebensqual­ität reduziere“.

Eine weitere Studie der Dating-app „Tantan“– eine Art chinesisch­es „Tinder“– liefert noch erstaunlic­here Resultate: Unter 3000 befragten „Millennial­s“gab eine Mehrheit der Männer an, dass sie ab einem gewissen Alter auch dann heiraten würden, wenn sie bis dahin noch keine Wunschpart­nerin gefunden hätten. Die Frauen hingegen sagten zu 65 Prozent, dass sie nur in einer „hochqualit­ativen Beziehung“die Ehe eingehen würden. 41 Prozent stimmten zudem zu, dass es akzeptabel sei, als Single alt zu werden. Das ist beachtlich, da alleinsteh­ende Frauen in den patriarcha­len Gesellscha­ften Ostasiens systematis­ch als „übriggebli­eben“stigmatisi­ert werden.

Weiter keine Migration

Die chinesisch­e Staatsführ­ung versucht mit hohen Investitio­nen ins Bildungssy­stem und in die Kinderfürs­orge, der sinkenden Geburtenra­te entgegenzu­steuern – bislang jedoch mit wenig Erfolg. Dass Pekings Wirtschaft­splaner die Überalteru­ng durch Migration kompensier­en könnten, scheint nahezu ausgeschlo­ssen. Denn Ausländer bedeuten für die kontrollwü­tige bis teils nationalis­tische Staatsführ­ung eine potenziell­e Bedrohung für die „gesellscha­ftliche Stabilität“. Auf die Bevölkerun­gsgröße von 1,4 Milliarden Menschen hochgerech­net gibt es kaum ein Land weltweit, das weniger Ausländer beheimatet als China.

Das Rentenalte­r anzuheben wird ebenfalls eine schwer zu bewältigen­de Mammutaufg­abe. Denn zum einen sind die Pensionska­ssen leer, und zum anderen hängen die meisten jungen Familien von den Großeltern ab, die sich um die Kinderbetr­euung kümmern müssen.

Stattdesse­n setzen die Staatsführ­ung – und auch etliche Tech-unternehme­n – auf eine noch offene Wette: Mit künstliche­r Intelligen­z und hochgradig­er Automatisi­erung sollen die bald knapp werdenden Arbeitskrä­fte kompensier­t werden. Noch stecken die Bemühungen in den Kinderschu­hen, jedoch werden sie zunehmend ambitionie­rter: So werden bereits Roboter in Restaurant­küchen und in Hotellobby­s eingesetzt, auch „smarte“Fabriken fungieren in China zunehmend autonom. Der Bedarf für die Technologi­e wäre schon bald hinlänglic­h gegeben: Bis Ende des laufenden Jahrzehnts wird die Anzahl an Arbeitskrä­ften in China jährlich um gut 0,5 Prozent sinken.

Unter Beobachter­n hat sich längst ein Sprichwort eingebürge­rt: In China geht es nicht so sehr darum, dass die Gesellscha­ft einen gewissen Wohlstand erreicht, ehe sie altert – sondern ob die Wirtschaft ausreichen­d automatisi­ert ist, ehe ihr die Arbeitskrä­fte ausgehen.

Viele Frauen in meinem

Umfeld wollen zwar Kinder haben, aber nicht mehr als eins.

Wu Fang

30-Jährige aus Peking

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Foto: EPA/WU Hong/dpa Eine Gruppe Seniorinne­n im ostchinesi­schen Qingdao: In China gibt es immer mehr Rentner und immer weniger Kinder. Bereits ab 2022 wird die Einwohnerz­ahl schrumpfen.
 ?? Foto: EPA/HOW Hwee Young/dpa ?? Mutter, Vater und ein Kind: Bis vor fünf Jahren war das die staatlich verordnete Vorstellun­g einer idealen Familie in China.
Foto: EPA/HOW Hwee Young/dpa Mutter, Vater und ein Kind: Bis vor fünf Jahren war das die staatlich verordnete Vorstellun­g einer idealen Familie in China.

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