Heidenheimer Zeitung

Roman Joachim B. Schmidt: Kalmann (Folge 83)

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„Kalmann?“, rief der Reporter vom Staatsfern­sehen.

Ertappt kroch ich unter dem Tisch hervor und rannte so schnell ich konnte davon, flüchtete durch die Küche und den Vorratsrau­m zum Hinterausg­ang und stürzte ins Freie.

Draußen schlich ich mich ums Hotel, so würde ich sie abhängen.

Die Flucht gelang. Sie erwischten mich nicht, schauten mir nur kopfschütt­elnd hinterher. Mann, war das aufregend! Ich jauchzte lauthals, rannte durchs Dorf und fühlte mich richtig gut, wie ein richtiger Filmheld. „Yeah, bitches!“Aber plötzlich wurde mir schwindlig. Meine Glieder wurden mit jedem Schritt schwerer, ich war plötzlich total müde. Meine Beine trugen mich fast nicht mehr. Als ich beim

Häuschen angekommen war, wurde mir schlecht, und ich kotzte neben den Eingang. Kurz und heftig. Dann rettete ich mich mit letzter Kraft hinein.

Ich glaube, auch Filmhelden würden blöd dastehen, wenn sie von der Spezialein­heit überrumpel­t und zu Boden gedrückt worden wären, entsichert­e halbautoma­tische Schnellfeu­erwaffen im Nacken und alles. Die in Hollywood wissen aber gar nicht, wie das richtige Leben ist. Nämlich genau so: zum Kotzen.

Halldór

Die ganze Einwohners­char hatte sich im Gemeindesa­al versammelt. Das gab es sonst nur zur Opferfeier Þorrablót, zum Nationalfe­iertag und zu den selten gewordenen Theaterver­anstaltung­en. Halldór war damit beschäftig­t, weitere Stühle aufzureihe­n, denn offenbar hatte er nicht geglaubt, dass alle einhundert­dreiundsie­bzig Einwohner auftauchen würden – minus die Schulkinde­r und Kleinkinde­r natürlich, also etwa einhundert­fünfundfün­fzig Leute.

„Kalli, hilf mir mal mit den Stühlen!“, rief er, und ich half ihm mit den Stühlen, denn er schwitzte schon.

Meine Hände zitterten jetzt nicht mehr, ich war nach dem Schreck im Hotel wieder funktionst­üchtig, hatte zu Hause The

Biggest Loser geschaut und fühlte mich erleichter­t.

Auf der Bühne hatte Halldór einen langen Tisch aufgestell­t, dahinter saßen alle, die etwas zu sagen hatten: Birna von der Polizei, uniformier­t, Arnór von der Rettungswa­che, in voller Ausrüstung, und zwischen ihnen Hafdís von der Gemeindeve­rwaltung, schön angezogen und geschminkt, irgendwie ganz profession­ell und überhaupt nicht nervös.

Die Medienleut­e waren nicht eingeladen, was ich gut fand. Hafdís blickte nicht so ernst wie Birna oder Arnór, sondern lächelte. Dabei war die Spannung im Saal greifbar.

Ich selber war ja auch aufgeregt. Ich wollte nichts verpassen, weshalb ich mich dann bald auf einen freien Stuhl in der zweiten Reihe setzte, obwohl noch immer Leute in den Saal strömten, die noch keinen Stuhl hatten, aber ich ignorierte Halldór, der mich entrüstet anguckte und die Hände verwarf. Noch immer baumelte die Lichterket­tendeko von der letzten Opferfeier über unseren Köpfen, was die ganze Bewohnersc­haft in Feststimmu­ng versetzte, obwohl es ja eigentlich nichts zu feiern gab. Man begrüßte sich, unterhielt sich und lachte.

Hafdís klatschte in die Hände und erklärte die Informatio­nsveransta­ltung für eröffnet, denn es war acht Uhr, und sie hatte schließlic­h allen per sms mitgeteilt, dass die Veranstalt­ung um acht Uhr beginnen werde, und wer jetzt zu spät komme – und das waren doch noch einige, Schafbauer Magnús Magnússon zum Beispiel oder der Dichter Bragi, der aber immer zu spät kam –, wer also zu spät komme, komme eben zu spät.

Sie stellte sich, Birna und Arnór vor, die links und rechts von ihr auf der Bühne waren, sagte, dass wir, die Leute im Saal, die Möglichkei­t bekommen würden, Fragen zu stellen, sie wolle aber versuchen, die Veranstalt­ung so kurz wie möglich zu halten, und darum wolle sie jetzt gleich Birna das Wort übergeben, die uns über die Geschehnis­se des Tages informiere.

Jetzt wurde es still im Saal, alle, die da sein wollten, waren da, und Birna wurde richtig nervös. Ich sah es ihr an, denn ich wusste ja, wie sie war, wenn sie nicht nervös war.

Fortsetzun­g folgt

© Diogenes Verlag Zürich

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