Berge und Täler mitten im Wohnzimmer
Rollentraining auf dem Rad hat in der Corona-pandemie einen kräftigen Schub erhalten. In Zeiten der Kontaktbeschränkungen wird das virtuelle Gruppenradeln populär.
Alex Miller ist endlich raus aus seiner Quarantäne. Der Afrikaner hat zwei harte Wochen hinter sich. Weil sich der Mountainbike-profi in Europa auf seinen Start bei den Olympischen Spielen in Tokio vorbereiten will, ist der 20-Jährige nach Deutschland gereist – und musste sich aufgrund der Corona-bestimmungen erst einmal in einem Hotelzimmer nahe des Frankfurter Flughafens verschanzen. Für den Vertragsfahrer vom oberschwäbischen Profi-team Trek-vaude wäre das so kurz vor dem bisherigen Karriere-höhepunkt ein schwerer Schlag – gäbe es da nicht inzwischen etwas, das den Fahrradverrückten dieser Welt die Tage hinter verschlossenen Türen erleichtert: das Rollentraining.
Und so spannte auch der Mountainbiker aus Windhoek (Namibia) sein Zweirad in den Rollentrainer, stellte es vor den Fernseher und hielt so auch auf 30 Quadratmetern seine Form. „Ich bin jeden Tag mehrere Stunden im Hotelzimmer gefahren. Ohne diese Möglichkeit wäre ich zwei Wochen lang zum Nichtstun verdammt gewesen“, berichtet Miller. Doch so war er virtuell strampelnd sogar per Headset und auf dem Bildschirm mit seinen Teamkollegen verbunden. Diese Art der Vernetzung, die früher ein Nischendasein fristete und heute Millionen digital zusammenbringt, hat sogar ein eigenes Verb: „Zwiften“– angelehnt an den Marktführer der Biking-app Zwift.
Das Programm, das die Visualisierung bekannter Radstrecken mit virtuellen Wettbewerben verbindet, verzeichnete 2020 einen Anstieg der Abonnenten von 263 Prozent. Dabei trieb die Corona-pandemie vor allem Vereinssportler wegen des Gruppensportverbots ins Internet. „Das virtuelle Radfahren auf dem Rollentrainer war bislang vor allem im Winter eine beliebte Betätigung für Radsportler“, sagt Christoph Kont vom Bund Deutscher Radfahrer (BDR), „nun kamen auch vermehrt aktive Radsportler aus dem Outdoor-bereich hinzu.“
Insofern grenzt es an Understatement, wenn Lennart Klein, Deutschland-manager von Zwift, zugibt: „Es läuft bei uns.“Die Corona-pandemie sieht er dafür „zwar nicht als Auslöser, vielleicht aber als Verstärker“. Über die Gesamtzahl seiner Nutzer hüllt sich die Geschäftsführung in Schweigen, Schätzungen zufolge sind es hierzulande inzwischen mehrere Millionen, die per Rolle und App auf der Stelle strampeln. „Organisiert sind diese bislang weniger über Vereine, sondern vielmehr in Teams“, sagt Online-marketingexperte Kont.
Selbst einer der Underdogs der Szene, das tschechische Startup Rouvy, zählt bereits eine halbe Million aktive Nutzer in seiner App. Während die Technik der Rollentrainer selbst relativ simpel ist, entsteht für Profis wie Hobbyfahrer vor allem über die Visualisierung und Vernetzung eine echte Alternative zum Fahren in der freien Natur.
Dabei gibt es für jeden Geschmack unterschiedliche Schwerpunkte: Marktführer Zwift stellt neben der bloßen Streckensimulation die Vernetzung der Sportler und das spielerische Aufsteigen im virtuellen Ranking in den Vordergrund, Rouvy hat sich auf eine möglichst realistische Darstellung von berühmten Rennstrecken spezialisiert. „Ich bin mit Rouvy beim virtuellen Ötztal-marathon mitgefahren. In echt kenne ich den aus dem Eff-eff, und ich war beeindruckt, wie realistisch das umgesetzt war“, berichtet Philip Handl, ebenfalls Mitglied des Trekvaude-teams mit Sitz in Meckenbeuren am Bodensee.
Multitasking auf dem Bike
Der Österreicher hat sein Home-training in den vergangenen Monaten perfektioniert: Während er auf der Rolle seine virtuellen Runden dreht, besucht der 24-Jährige Online-vorlesungen für sein Informatik-studium oder programmiert Apps für seinen Nebenjob. „Ohne den Smart-trainer würde ich das Pensum als Profisportler neben Studium und Beruf gar nicht schaffen“, gesteht Handl. Dafür hat sich der pfiffige Tiroler sogar aus einem Bügelbrett und einer Styroporplatte eine Konstruktion gebastelt, mit der er das Laptop während der Rollenfahrt bedienen kann. Nur einmal musste er spontan vom Bike springen – als sein Uni-professor alle Vorlesungsteilnehmer darum bat, die Kamera einzuschalten.
Anders als bei Alex Miller, der das Rollentraining nur als Notlösung bei schlechtem Wetter oder Ausgangssperre sieht, ist für Philip Handl das Rollentraining mehr als nur eine lästige Pflicht. So hat er dem virtuellen Ötztal-marathon, den Rouvy in Form von reinen Bergauf-rennen veranstaltet hat, noch einen obendrauf gesetzt: „Ich habe alle Zwischenabschnitte über die Watteinstellungen simuliert und bin somit den kompletten Marathon an einem Stück gefahren“, sagt der fahrradverrückte Österreicher. Sieben Stunden saß er dabei ununterbrochen auf der Rolle.
Menschen wie Handl sind es, die den Radsport auch virtuell nach vorne bringen. So ist die Szene bereits so gut organisiert, dass hierzulande 500 E-sportler an der 2020 gegründeten GCA-LIGA teilnehmen, einer Art virtuellen Bundesliga unter dem Dach des BDR. Auch eine E-cycling-weltmeisterschaft hat es im vergangenen Jahr erstmals gegeben. Insofern will es Christoph Kont „nicht komplett ausschließen“, dass der E-sport irgendwann olympisch wird. „Wir stehen hier aber noch am Anfang der Entwicklung“, stellt der Online-verantwortliche des Radsport-bundesverbands klar.
So realistisch das Home-biking aber auch noch wird, so einig sind sich alle Sportler: Es kann das Erlebnis in der freien Natur nicht ersetzen. Doch Alex Miller betont: „Es macht das Radfahren in den eigenen vier Wänden um einiges spannender.“
Ohne diese Möglichkeit wäre ich zwei Wochen lang zum Nichtstun verdammt gewesen.
Alex Miller
Mountainbike-profi