Das Leben hören
„Wir haben die Kunst“, sagt der Ludwigsburger Intendant Jochen Sandig – und das Netz: Oksana Lyniv dirigiert faszinierend das Eröffnungskonzert.
Ausgerechnet jetzt diese berühmte Komposition „4’33“von John Cage aufs Programm setzen? Eine Partitur, in der kein einziger Ton notiert ist, nur die Spielanweisung „Tacet“? Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden nichts. Nur der Stille lauschen und damit das Leben bewusst hören? – nee, danke, davon haben wir eigentlich genug in dieser Corona-pandemie.
Im Ludwigsburger Forum gibt Oksana Lyniv energisch den Einsatz: Erst stehen die Bläser auf, setzen ihre Instrumente an – und frieren in der Attacke ein. Dann die Streicher, dann im dritten Satz das Tutti – aber kein Bogenstrich, kein Paukenschlag, Erstarrung, bis die Dirigentin abwinkt und sich verbeugt. Als der Pianist David Tudor 1952 bei der Uraufführung in Woodstock (New York) den Klavierdeckel auf- und dann nach besagter Zeit wieder zuklappte, hatte er radikal bewiesen: Es gibt keine Stille, die Welt ist erfüllt von (Neben-)geräuschen.
So war das ein grandioser Einfall, „4’33“im Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele zu präsentieren: einerseits als stillen Protest in einer Zeit, in der die Kultur vielerorts zum Schweigen verurteilt ist. Aber auch als ein Zeichen der Gewissheit und Zuversicht: Es ist ja im wahrsten Cage-sinne auch im Lockdown nicht still. „Wir haben die Kunst!“
Jochen Sandig sagt das, der Intendant. Der ist, sehr herzlich, ein
Menschenumarmer – aber von Corona wurde er ausgebremst wie kaum ein anderer Kulturschaffender. „Wir öffnen den Vorhang für ein Fest der Künste, der Demokratie und de Nachhaltigkeit“, schrieb der 52-jährige im prächtigen Programmbuch seiner ersten Schlossfestspiele 2020. Mit drei Fragen wollte er die Menschen erreichen: „Wo stehst du? Was bewegt dich? Wohin gehen wir?“Hochkarätige Künstlerinnen und Künstler, spannende Veranstaltungen. Aber Sandig hat praktisch noch gar nicht richtig anfangen dürfen. Fast alles fiel aus. Und in diesem Jahr: Immer noch Corona.
Sandig freilich ist keiner, der schnell aufgibt. Er sagt zu den Ludwigsburger Projekten: „Das ist wie ein guter Wein. Er lagert, wird später geöffnet.“Auf 2022 ist vieles verschoben. Was nicht heißt, dass das bis 12. Juli terminierte Festival nicht stattfindet – zunächst aber nur auf der digitalen Bühne (schlossfestspiele.de). Das Eröffnungskonzert jedenfalls, das als Finale der letzte Saison geplant gewesen war, geriet spektakulär. Denn Oksana Lyniv, die im Sommer als erste Frau auf dem Grünen Hügel in Bayreuth dirigieren wird, führte mit dem Ludwigsburger Festspielorchester neben dem Cage mitreißend die „Pastorale“Ludwig van Beethovens auf sowie, mit tiefer Ernsthaftigkeit, Gustav Mahlers „Lied von der Erde“.
Fast 8000 Stream-abrufe
Ein Team von Arte Concert hatte im Forum-theater die Kameras aufgebaut: für einen Livestream, der noch bis November abrufbar ist. „So kommen wir zu den Menschen nach Hause!“, zeigt sich Sandig im Gespräch mit unserer Zeitung „wahnsinnig dankbar“: Die Digitalisierung helfe zudem, den Zugang zur klassischen Musik zu erleichtern, der oft durch Barrieren blockiert sei. Und, ja, schon fast 8000 Abrufe des Streams wurden registriert.
Wer die Generalprobe vor Ort erlebte und dann den Stream anschaut, muss sagen: Die Klangqualität des Videos ist hervorragend (ausbalancierter als live im publikumsleeren Forum). Und man kann die wunderbare Oksana Lyniv ganz nah beim Dirigieren bestaunen: Wie sie, etwa im 2. Satz von Beethovens 6. Sinfonie, mit beiden Händen geradezu die Musik malt, choreografiert. Die Ukrainerin lebt die Musik existenziell, körperlich, mit großen Gesten – aber sie agiert trotzdem mit absoluter Klarheit fürs Orchester.
Dann Mahlers „Lied von der Erde“in einer Fassung für knapp 60 Instrumentalisten mit dem tatsächlich urerdigen Alt der Anna Larsson und dem Tenor Christian Elsner. Für Lyniv ist dieses Werk eine „Seelentherapie“.
Aber in diesem Konzert läuft dazu ein Film des Fotografen und Umweltaktivisten J Henry Fair: ein abstraktes Spiel mit Formen und Farben, aber das ist die vom Menschen geschundene Erde; Ölflecke auf dem Wasser, abgetragene Berge. Und dann auch Industrieanlagen. Erschreckend, aufrüttelnd zu dieser Weltabschiedsmusik des naturverbundenen Mahler, die im Arte-video aber nicht als Soundtrack läuft – die Kameras zeigen immer wieder auch die Dirigentin und die Musiker.
Nein, es kann keine Rede sein von lähmender Stille: Die Kunst bewegt, auch online, aber menschengemacht.