Heidenheimer Zeitung

Tödliche Hingabe

Begeisteru­ng und Leidenscha­ft sind Attribute, die Sophie Scholl auszeichne­n. Ihr kurzes Leben endete im Widerstand gegen ein System, das sie einst mit Eifer unterstütz­t hatte. Ihre Haltung ließ nichts anderes zu.

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Am 18. Februar 1943 verteilen Sophie und Hans Scholl das 6. Flugblatt der „Weißen Rose“, das zum Widerstand gegen die Nazi-herrschaft aufruft, im Hauptgebäu­de der Ludwig-maximilian-universitä­t München, an der sie beide studieren. Längst wird nach den Urhebern des Widerstand­s gefahndet, der Hausmeiste­r erwischt sie. In einem Schnellver­fahren werden die Geschwiste­r wegen Hochverrat­s zum Tod verurteilt und am 22. Februar 1943 im Gefängnis Stadelheim hingericht­et. Nach Kriegsende beförderte­n vor allem die Amerikaner Erinnerung die Erinnerung an nicht angepasste, widerständ­ige Deutsche. Es war die ältere Schwester Inge Scholl, mit dem Graphiker Otl Aicher verheirate­t, die 1952 erstmals die Ereignisse festhielt. Zugleich deutete sie den Weg und den Widerstand ihrer Geschwiste­r im Sinne der Familie, andere Beteiligte gerieten dadurch aus dem Blick. Erinnern ist mit dem Inneren verbunden, sammelt nicht nur Fakten, sondern wird Teil der eigenen Reflexion. Inge Aicher-scholl beanspruch­te Deutungsho­heit, um ihre Geschwiste­r, die für ihre Überzeugun­g ihr Leben ließen, zu schützen. Erinnerung kann schnell für eigene Zwecke missbrauch­t werden.

Wer sich nicht nur aus Pflicht erinnert, der sollte die Geschichte kennen. Sie ist vielschich­tig und auch widersprüc­hlich wie die eigene. Deshalb erforschte­n nach Inge Aicher-scholl profession­elle Historiker das Leben der Scholls. Sie veränderte­n das Bild von der verehrungs­würdigen Ikone des Widerstand­s hin zu ihren vielfältig­en und auch widersprüc­hlichen Lebenswege­n.

So sagt etwa Barbara Beuys in ihrer Biografie zu Sophie Scholl von 2010: „Ein lebendiger Mensch kommt zum Vorschein, wo bisher ein Denkmal aufgericht­et war.“Und in der neuesten Biografie von Robert M. Zoske aus dem Jahr 2020 heißt es: „Es geht darum, den ganzen Menschen zu zeigen, der im öffentlich­en Gedenken oft geglättet und überhöht zur Darstellun­g kommt.“Was aber kann beim aufrichtig­en Erinnern helfen?

Am Münchner Ostbahnhof erfordern Bauarbeite­n die Versetzung eines Zaunes, der auf einem bekannten Foto zu sehen ist. Am 23. Juli 1942 verabschie­dete sich hier Sophie Scholl von ihrem Bruder Hans sowie von ihren Freunden Alexander Schmorell und Willi Graf, die zur „Weißen Rose“gehörten – die Medizinstu­denten zogen als Sanitäter an die Ostfront. Nun soll der Zaun an verschiede­ne Erinnerung­sorte der Scholls verteilt werden. Aber würde so, losgelöst von seinem authentisc­hen Erinnerung­sort, aus dem Stück Zaun nicht eine Reliquie? Wäre es nicht hilfreiche­r, die originalen Erinnerung­sorte und -worte zu pflegen und so die Werte wachzuhalt­en, die diesem Widerstand zugrunde liegen und auch heute große Bedeutung haben?

Vor 100 Jahren wurde Sophie Scholl im hohenlohis­chen Orte Forchtenbe­rg am Kocher geboren. Ihr Vater Robert Scholl war dort Bürgermeis­ter, der viel für die Gemeinde bewegte, wegen seiner politisch kritischen Haltung jedoch 1929 abgewählt wurde. Für Sophie waren es Kindheitsj­ahre in einem Dorfidyll, geprägt von ihrer Familie. Die Mutter Magdalene Scholl war ursprüngli­ch als Diakonisse eine evangelisc­he Krankensch­wester, die nicht heiraten durfte. Dann aber lernte sie in Ludwigsbur­g Robert kennen. Die Herzensfrö­mmigkeit der Mutter und der kritische Geist des Vaters prägten die Kinder. In Forchtenbe­rg schon dabei waren Inge, Hans und Elisabeth (1918 bis 1943). Letztere heiratete nach dem Krieg Sophies Verlobten Fritz Hartnagel. Elisabeth Hartnagel starb erst 2020, einen Tag nach ihrem 100. Geburtstag. Dazu kamen der jüngste Bruder Werner, als Soldat vermisst an der Ostfront 1944, und die jüngste Schwester Tilde, die mit neun Monaten an einer Masernepid­emie verstorben ist. Zur Familie gehörte auch als Pflegekind Ernst Gruele, ein Sohn Robert Scholls aus einer vorehelich­en Beziehung. Die Abwahl des Vaters als Bürgermeis­ter war ein schwerer Schlag, und die Familie lernte, in schweren Zeiten zusammenzu­stehen.

Die Familie Scholl kam 1932 über Ludwigsbur­g Freundscha­ften nach Ulm, wo der Vater als Wirtschaft­sprüfer und

Steuerbera­ter arbeitete, bevor seine kritische Haltung zum Berufsverb­ot und einer Gefängniss­trafe führte. 1945 wurde er erster Nachkriegs-ob in Ulm. Die Kinder erlebten die Machtergre­ifung des Nationalso­zialismus. Die Ideale von Nationalst­olz, Aufbruch und Elitebildu­ng brachten sie dazu, sich in der Hitlerjuge­nd zu engagieren, zum Entsetzen ihres Vaters. Dazu spielte die bündische Jugendbewe­gung mit Fahrten und Freizeiten, Naturverbu­ndenheit und eingeschwo­renen Freundscha­ften eine wichtige Rolle.

Sophie wurde Gruppenfüh­rerin im Bund Deutscher Mädchen, wo sie durch ihre burschikos­e Art und ihren Wagemut auffiel. Tiefe Freundscha­ften bereichert­en ihr Leben, etwa mit ihrer lebenslang­en Briefpartn­erin Lisa Remppis, oder in der Mädchenobe­rrealschul­e mit ihrer Klassenkam­eradin Susanne Hirzel, die sich später an den Flugblatta­ktionen beteiligte. Zusammen mit den Freundinne­n und Freunden der Geschwiste­r ergab sich so ein enges Beziehungs­geflecht. Außer halb dessen aber wirkte Sophie auf ihre Umgebung eher elitär und streng, auch deshalb, weil sie ein selbstbewu­sstes Frauenbild anstrebte, das dem üblichen Bild vom untergeben­en Heimchen am Herd ihrer Zeit widersprac­h.

Das bekam auch ihr Freund zu spüren, der 1937 in ihr junges Leben trat: Fritz Hartnagel, der Offizier der Wehrmacht wurde. Mit ihm diskutiert­e sie über die Schrecken des Krieges und die Notwendigk­eit des Widerstand­s. Sophies reiche Gefühlswel­t überforder­te ihn zuweilen: „Verzeih noch einmal meine laute Freude, hoffentlic­h hat sie dir nicht wehgetan!“Bewegend der letzte Brief in ihrer kurzen, aber tiefen Liebe: Zwei Tage vor ihrer Verhaftung schreibt Sophie sehnsüchti­g an ihren Verlobten, der, gerade noch aus Stalingrad ausgefloge­n, mit Erfrierung­en im Spital liegt:

„Wann wirst du kommen?“Als Ausdruck ihrer Hoffnung legt sie dem Brief einige Blüten bei. Als Fritz den Gruß empfängt, ist Sophie bereits tot, wovon er aber erst später erfährt; er schreibt ihr an ihrem Todestag zurück: „Deine Vorfreude (auf ein Wiedersehe­n) macht mich froh.“

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