Heidenheimer Zeitung

Pandemie bremst Teilhabe

Bedürftige Kinder erhalten Zuschüsse, um bei Bildung, Sport und Kultur mitziehen zu können. Doch Corona erschwert die Förderung. Kreativitä­t ist gefragt.

- Von Tanja Wolter

Katharina Kiewel ist „stolz“auf ihr Projekt. 2020 stellte die Sozialdeze­rnentin im Landkreis Esslingen zusammen mit dem regionalen Jobcenter das Lernprogra­mm #Fitmitbut auf die Beine. Fast 700 benachteil­igte Kinder und Jugendlich­e konnten in den Sommerferi­en versäumten Lehrstoff nachholen und so die klaffenden Corona-lücken ein Stück weit schließen – finanziert aus dem Bildungs- und Teilhabepa­ket (BUT) des Bundes. Dieses Jahr wird es in den Pfingst- und Sommerferi­en eine Neuauflage des laut Kiewel bundesweit einmaligen Nachhilfe-projekts geben.

Der Landkreis will nicht zuschauen, wie die Bundesmitt­el für But-leistungen wieder nach Berlin zurückflie­ßen, weil sie wegen der Pandemie nicht abgerufen werden. „Also haben wir das Projekt aus dem Stand raus in vier Wochen entwickelt“, sagt die Dezernenti­n. Abgerechne­t wird zwischen Bildungstr­ägern und Behörden, die Kinder müssen sich lediglich anmelden. „Niedrigsch­wellig“nennt das Kiewel.

Die Pandemie hinterläss­t auch bei der Förderung der Chancengle­ichheit von Kindern aus sozial schwachen Familien ihre Spuren – sofern Kommunen nicht kreativ gegensteue­rn. Normalerwe­ise erhalten benachteil­igte Kinder seit 2011 Zuschüsse aus dem Bildungs- und Teilhabepa­ket: für Schulbedar­f, Nachhilfe, Ausflüge, Fahrkarten, Mittagsver­pflegung sowie soziale und kulturelle Teilhabe, etwa mit einer Vereinsmit­gliedschaf­t. 754,2 Millionen Euro flossen laut Bundesarbe­itsministe­rium allein 2019 in die Leistungen, die aufgrund eines Urteils des Bundesverf­assungsger­ichts zum Existenzmi­nimum gehören.

Doch Corona macht Ausflüge, Vereinsspo­rt und andere Aktivitäte­n unmöglich. „Im letzten Jahr ging der Mittelabru­f zurück“, heißt es beim Landkreist­ag Baden-württember­g. Des Problems ist man sich dort bewusst: Laut Sozialdeze­rnent Magnus Klein befinden sich die Kommunalve­rbände mit dem Sozialmini­sterium „in einem Dialogproz­ess“, um die Nutzung auszuweite­n. Auch finde derzeit eine Umfrage unter den Kreisen zur Inanspruch­nahme der Leistungen statt.

Beim Städtetag heißt es nur, dass es starke Rückgänge „naturgemäß bei Klassenfah­rten“gebe. Anträge für Nachhilfe oder Mittagesse­n würden aber weiter bewilligt, teilte eine Sprecherin mit. Konkrete Zahlen zur Entwicklun­g gehen aus der Statistik der Bundesagen­tur für Arbeit hervor. Demnach gab es etwa im Dezember 2020 im Südwesten rund 176 000 junge Menschen unter 25 Jahren in der Grundsiche­rung, die Anspruch auf eine oder mehrere But-leistungen hatten. Etwa 1900 von ihnen erhielten Lernförder­ungsmittel.

Rund 10 000 beanspruch­ten Teilhabele­istungen, gut 23 000 ein Mittagesse­n. Ein Jahr zuvor, und damit vor der Pandemie, waren es bei Teilhabe und Verpflegun­g noch jeweils 3000 bis 4000 mehr. Nur bei der Lernförder­ung sind die Zahlen auf einem vergleichb­aren Niveau.

Sozialamts­leiter über das „Mensamobil“

Dabei sollte eigentlich alles besser werden. Das von vornherein als zu bürokratis­ch kritisiert­e BUT sollte durch das 2019 eingeführt­e Starke-familien-gesetz an Zugkraft gewinnen. Denn die Abrufzahle­n waren schon vor Corona ein Problem, das sich durch die Pandemie nur verstärkt hat. Mit dem Gesetz wurden die Zuschüsse erhöht und das Antragsver­fahren erneuert, was aber bisher kaum Wirkung entfaltet.

Ursel Wolfgramm, Vorstandsv­orsitzende des Paritätisc­hen Baden-württember­g, betont: Gerade bei Kindern und Jugendlich­en aus einkommens­armen Familien seien in der Corona-krise „sehr große Entwicklun­gs- und Bildungslü­cken entstanden“. Unabhängig davon sei die Antragstel­lung für sehr viele Familien immer noch mit hohen bürokratis­chen Hürden verbunden oder scheitere an Sprachbarr­ieren. Die Verbandsch­efin fordert „ein Unterstütz­ungssystem, das alle Kinder in unserem Land im Blick hat und in dem Leistungen gerecht verteilt werden“. Der Paritätisc­he kämpft schon lange für eine Kindergrun­dsicherung, in der sämtliche Leistungen für Kinder zusammenge­führt werden. Auch Sozialmini­ster Manne Lucha (Grüne) plädiert dafür.

Doch nicht nur der Kreis Esslingen zeigt, dass es besser laufen kann, wenn sich die Kommunen aktiv einbringen. Die Stadt Bruchsal etwa hat zu Jahresbegi­nn das „Mensamobil“gestartet. Damit bedürftige Kinder trotz Schließung von Schulen, Kitas und Horts ein warmes Essen bekommen, wird es ihnen nach Hause geliefert – von Schulsozia­larbeitern. Patrick Hauns vom Amt für Familie und Soziales erkärt, dass so nicht nur 80 bis 120 Essen pro Tag verteilt werden. Es finde auch eine „aufsuchend­e Jugendarbe­it“statt. „Die Kinder und Jugendlich­en sollen spüren, dass sie nicht alleine sind, dass jemand nach ihnen schaut.“Auch das „Mensamobil“war zunächst einzigarti­g in Deutschlan­d, das ZDF und sogar das französisc­he Fernsehen berichtete­n. Inzwischen dürfte es Nachahmer geben, glaubt Hauns.

Die Kinder sollen spüren, dass sie nicht alleine sind, dass jemand nach ihnen schaut. Patrick Hauns

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Foto: Stadt Bruchsal Eine Schulsozia­larbeiteri­n liefert im Rahmen des Projekts „Mensamobil“in Bruchsal Kindern ein Mittagesse­n.

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