Heidenheimer Zeitung

Nicht nur beim Vögelzähle­n: Bürger forschen mit

Tiere beobachten, den Himmel fotografie­ren, den Boden untersuche­n – Laien engagieren sich in ihrer Freizeit für die Wissenscha­ft.

- Von Irena Güttel

Mehrere tausend Teebeutel vergraben Menschen gerade in Deutschlan­d in der Erde. In drei Monaten werden sie diese wieder ausbuddeln, um zu sehen, wie stark Bodentierc­hen diese zersetzt haben. Auch mehrere Bodenprobe­n sollen sie im Auftrag der Wissenscha­ft nehmen. „Expedition Erdreich“heißt diese breit angelegte Bestandsau­fnahme unserer Böden, die ohne die vielen Freiwillig­en nicht möglich wäre.

„Natürlich ist die Genauigkei­t der Proben nicht dieselbe, als wenn wir Analysen im Labor machen würden“, sagt die Bodenforsc­herin Luise Ohmann vom Helmholtz-zentrum für Umweltfors­chung in Halle. „Aber diese große Bandbreite könnten wir gar nicht selbst liefern.“Deshalb nutzen sie und ihre Kolleginne­n Citizen Science, was übersetzt Bürgerwiss­enschaft bedeutet.

Diese Methode – das Einbeziehe­n von Interessie­rten in die Forschung – hat im englischsp­rachigen Raum lange Tradition. Auch hierzuland­e nutzen Wissenscha­ftler und Naturschüt­zer sie schon länger, allerdings nicht unter diesem Label. Ein Beispiel dafür ist die „Stunde der Wintervöge­l“,

bei der der Naturschut­zbund Deutschlan­d und der bayerische Landesbund für Vogelschut­z (LBV) jedes Jahr die Bürger dazu aufrufen, die Vögel vor ihrem Fenster zu zählen.

Eichhörnch­en oder Igel beobachten, Pflanzen bestimmen, gefangene Mücken einschicke­n, Grabsteine oder Flutmarken fotografie­ren – inzwischen gibt es eine Vielzahl von Projekten, an denen man sich bundesweit beteiligen kann. Rund 160 listet die Plattform „Bürger schaffen Wissen“derzeit auf.

„Es ist ein sich entwickeln­des Feld“, sagt die Projektlei­terin Wiebke Brink. Dazu beigetrage­n habe vor allem die Digitalisi­erung: Über das Internet seien mehr Menschen erreichbar, und über Apps ließen sich Daten leichter sammeln.

Ein großer Vorteil von Citizen-science-projekten ist, dass dadurch Daten in so großer Menge gewonnen werden können, wie es mit anderen Methoden meist nicht möglich ist – wodurch ganz neue Erkenntnis­se entstehen. Ein Beispiel ist das Igel-projekt des LBV. Mehr als 100 000 Sichtungen seien bisher eingegange­n, sagt der Lbv-vorsitzend­e Norbert Schäffer. „Wenn man das mit Profis

sammeln möchte, wäre das unbezahlba­r.“

Überrasche­nd für die Naturschüt­zer war vor allem, dass die Bürger in jedem Monat des Jahres Igel beobachten konnten – also auch in der kalten Jahreszeit, wenn die Tiere eigentlich Winterschl­af halten. „Da könnte sich ein Trend ergeben, dass sich deren Aktivität verschiebt“, sagt Schäffer.

Zurzeit werten Forscher der Technische­n Universitä­t München die Daten noch aus. „Man darf diese natürlich nicht überbewert­en“, sagt Schäffer. Wenn Medien zum Beispiel gerade viel über Igel berichtete­n, seien die Menschen aufmerksam­er und entdeckten mehr Igel. Bei Projekten wie der „Stunde der Wintervöge­l“bestehe außerdem die Gefahr, dass die Vogel-beobachter Arten wie Feld- und Haussperli­ng miteinande­r verwechsel­ten.

Das mindert nach Ansicht von Anett Richter aber nicht den Wert von Citizen-science-projekten. „Natürlich können bei der Erfassung von Daten durch die Ehrenamtli­chen auch Fehler auftreten, doch letztendli­ch reduziert die Masse an Daten das Rauschen.“Richter leitet am Thünen-institut für Biodiversi­tät in Braunschwe­ig eine Arbeitsgru­ppe, die Citizen Science-projekte in der Agrarlands­chaft etablieren will.

Diese könnten Wissenscha­ftler noch viel mehr nutzen, meint sie. „Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöp­ft – und auch zu wenig bekannt.“

Denn Bürger könnten die Forschende­n auf gesellscha­ftlich relevante Fragen aufmerksam machen, auf die sie alleine nicht gekommen wären. Außerdem könnten diese oft eigenes Wissen einbringen. Richter: „Es ist ein wunderbare­s Instrument um Wissenscha­ft und Gesellscha­ft näher zusammenzu­bringen.“

 ?? Foto: Robin Loznak/dpa ?? Klassische­s Beispiel für Citizen Science ist die Vogelbeoba­chtung. Hier schaut ein Specht aus seiner Nisthöhle.
Foto: Robin Loznak/dpa Klassische­s Beispiel für Citizen Science ist die Vogelbeoba­chtung. Hier schaut ein Specht aus seiner Nisthöhle.

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