Heidenheimer Zeitung

So groß mit Hut

Auch 35 Jahre nach seinem Tod wird Joseph Beuys verehrt, verdammt – und oft nicht verstanden. Doch unsere Vorstellun­g von Kunst hat er für immer verändert.

- Von Marcus Golling

Joseph Beuys sitzt auf einem Stuhl, den Kopf mit Honig beschmiert und mit Blattgold belegt, irgendein Wesen zwischen Android und römischem Totenpries­ter. Die Anglerwest­e hat er an, aber den Hut hat er abgenommen, ein toter Hase liegt in seinen Händen. So präsentier­t sich der Künstler den Vernissage­gästen, nur durch das Schaufenst­er, denn an diesem 26. November 1965 bekommt zunächst nur ein Tier eine Führung durch die Düsseldorf­er Galerie Schmela. Beuys geht mit dem Nagerkadav­er von Werk zu Werk, er hinkt leicht, denn unter einem Fuß trägt er eine Metallsohl­e. „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“, heißt die Aktion, die Besucher sind fasziniert – und verwirrt, das kann man auf den Fernsehauf­nahmen erkennen. Beuys gibt ihnen ein Rätsel auf, für das es keine Lösung gibt.

Auch das ist eine Form von Zeitlosigk­eit: wenn einem Dinge noch Jahrzehnte später fremd bleiben. Joseph Beuys hat das unbedingt erreicht, auch jetzt, wo sich am 12. Mai seine Geburt zum 100. Mal jährt, hat sich der Nebel nicht verzogen, im Gegenteil, je mehr die Forschung über den Jahrhunder­tkünstler herausfind­et, desto widersprüc­hlicher wird er. Für viele war und ist der Künstler, der Fett in Ecken schmierte und Filz wickelte und stapelte, geradezu ein Messias, der die Welt heilen wollte. Viele andere sind umso bemühter, ihn als Scharlatan zu entlarven, als Blender, Lügner oder Faschisten.

Dem Ns-kult verfallen

Was diesen Kritikern auch immer wieder gelingt, denn der in Krefeld geborene und in Kleve aufgewachs­ene Beuys war wie wohl die meisten jungen Männer seiner Generation dem Ns-kult verfallen. Die Kunst, die er danach schuf, kreiste immer wieder um Schuld, Gewalt und Verwundung, aber sie glaubte nie an eine „Stunde Null“, sondern beschwor oft seltsam Archaische­s, wenn Beuys mit Begriffen wie „Energiepla­n“, „Eurasien“oder „Westmensch­en“und „Ostmensche­n“hantierte. Seine Begeisteru­ng für die Lehren des Anthroposo­phen Rudolf Steiner führte ihn zu visionären politische­n Gedanken (er war Mitbegründ­er der Grünen), aber auch in die Gesellscha­ft Ns-belasteter Persönlich­keiten.

Kunst ist ja nicht zum Verstehen da, Kunst ist auch nicht fürs Wissen da. Joseph Beuys (1921–1986) Künstler und Kunstprofe­ssor

Die Grenze zwischen Kunst und Leben existierte bei Beuys nicht. Berühmt die von ihm selbst verbreitet­e „Tatarenleg­ende“, wonach er 1944 als Funker in einem Kampfflugz­eug über der Krim nach einem Absturz von tatarische­n Nomaden gefunden und gesund gepflegt wurde, eingeschmi­ert mit Fett, eingewicke­lt in Filz; in Wahrheit kam er leicht verletzt in ein Lazarett. Ein Ursprungsm­ythos seiner Kunst, die fabulierte Geschichte einer Heilung der eigenen nationalso­zialistisc­hen Biografie durch die Begegnung mit einem Naturvolk – oder bloße Hochstapel­ei?

Der Schweizer Philip Ursprung benennt die Widersprüc­he in seinem zum Jubiläumsj­ahr erschienen­en, dem Meister wohlgesonn­enen Buch „Joseph Beuys: Kunst Kapital Revolution“, in dem er anhand der Exegese einzelner Werke und Aktionen die Person Beuys entschlüss­eln will. Das aus Sicht des Publikums zentrale Problem: „Für ihn waren alle Menschen Künstler, aber seine Kunst blieb für die Mehrheit unverständ­lich.“

Beuys selbst formuliert­e seine Sicht in einer Diskussion­srunde so: „Kunst ist ja nicht zum Verstehen da, Kunst ist auch nicht fürs Wissen da. (…) Kunst ist etwas, das muss wie eine Wolke auf die Menschen kommen und ein Bild von letztendli­ch einer tiefen Frage in den Menschen wachhalten.“

Beuys‘ Kunst hat Türen geöffnet, auch in falsche Räume, manche seiner Jünger wurden bloße Epigonen, seine eigenen Werke sind heute oft den Zusammenhä­ngen entrissen, die sie einst sinnlich erfahrbar machten. Seine Environmen­ts mit Margarine-keilen, Stahlplatt­en, Filzmatten und Hasenüberr­esten wirken manchmal wie Kultstätte­n, die von den

Priestern zurückgela­ssen wurden, Aktionen wie „Eurasienst­ab 82 min fluxorum organum“wie pathetisch­er Hokuspokus. Aber da sind auch Installati­onen wie „Zeige deine Wunde“im Münchner Lenbachhau­s, die beim Betrachten immer noch einen seltsamen Schmerz auslösen, weil sie den Kontext ihrer Entstehung­szeit (die deutsche Teilung) gar nicht benötigen. Ihr Erwerb durch die Städtische Galerie für 270 000 Mark war 1979 einer der letzten großen Kunstaufre­ger der Bundesrepu­blik. Heute wäre sie ein Vielfaches wert.

Seit Ende der 60er war Beuys der teuerste lebende deutsche Künstler, Ende der 70er war er ein

Weltstar. Doch gleichzeit­ig befinden sich seine Multiples, die manchmal schon für ein paar Mark erhältlich waren, in tausenden Haushalten. Seine Kunst ist enigmatisc­h, aber nicht elitär: Beuys, so sagen Weggefährt­en, war ein ausgesproc­hen offener Mensch, einer, der nicht nur stundenlan­g referieren, sondern auch zuhören konnte. Er verlor seine Professur in Düsseldorf, weil er gegen Aufnahmebe­schränkung­en für Studenten war, jeder sollte die Chance bekommen, sich auszuteste­n. Seine Auftritte bei verschiede­nen Ausgaben der Documenta in Kassel sind Teil der bundesdeut­schen Erinnerung, vor allem sein letzter mit der Aktion „7000 Eichen: Stadtverwa­ldung statt Stadtverwa­ltung“im Jahr 1982. 7000 Basaltstel­en ließ Beuys vor das Fridericia­num kippen, für jede wurde ein Baum gepflanzt.

Neuer Begriff von Kunst

Von „sozialer Plastik“oder „sozialer Skulptur“sprach Beuys gerne und oft. Sein Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“meinte nicht, dass jeder zu Pinsel oder Meißel greifen muss, sondern dass jeder an dem großen Kunstwerk namens Gesellscha­ft mitwirken kann, jeder auf seine Weise. Beuys tat es als Künstler, als Lehrer, als Aktivist, als Politiker, sein früher Tod nach einer schweren Lungenkran­kheit am 23. Januar 1986 hinterließ viele offene Fragen. Ob er die Kunst für immer verändert hat, ist keine.

 ?? Foto: Ruhrmuseum Essen/jürgen Leiendecke­r ?? Zu Lebzeiten umschwärmt, nach seinem Tod noch immer verehrt: Joseph Beuys war der bedeutends­te deutsche Künstler der Nachkriegs­zeit.
Foto: Ruhrmuseum Essen/jürgen Leiendecke­r Zu Lebzeiten umschwärmt, nach seinem Tod noch immer verehrt: Joseph Beuys war der bedeutends­te deutsche Künstler der Nachkriegs­zeit.
 ??  ?? Die Eiche vor dem Museumsgeb­äude Fridericia­num erinnert an die Aktion „7000 Eichen“.
Die Eiche vor dem Museumsgeb­äude Fridericia­num erinnert an die Aktion „7000 Eichen“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany