Heidenheimer Zeitung

Die gläsernen Schüler

Kameras im Klassenzim­mer, Chips im Sportunter­richt: Die Staatsführ­ung treibt die Digitalisi­erung der Schulen auf die Spitze. Das Projekt reiht sich ein in ein großes Sozialexpe­riment.

- Von Fabian Kretschmer

Sportlehre­r Wang Kun träumt bereits von der vollkommen fairen Schulklaus­ur. „Wir wollen den menschlich­en Fehler minimieren. Keiner soll hier eine gute Note bekommen, nur weil er enge Beziehunge­n zum Prüfer hat“, sagt der Chinese mit der ernsten Miene und der kerzengrad­en Körperhalt­ung. Seine Devise lautet: Nur Leistung zählt – und sonst nichts.

Der Pädagoge steht in der riesigen Sporthalle der Qingzhen Mittelschu­le, hinter ihm haben sich bereits dutzende Teenager in Trainingsk­leidung auf dem glatt geputzten Linoleumbo­den aufgereiht. Sie werden heute in ihrer Abschlussp­rüfung beim Seilspring­en gegen die Zeit getestet. Bewertet werden sollen die Schüler jedoch nicht vom fehlerhaft­en menschlich­en Auge, sondern objektiver Technik: Eine Kamera, ausgestatt­et mit künstliche­r Intelligen­z, zählt in Echtzeit jede Rotation des Sprungseil­s. Später werden Computerch­ips, eingenäht in die Shirts der Schüler, sicherstel­len, dass niemand beim Ausdauerla­uf auf der 400-Meter-bahn seine Spur wechselt. Schummeln wird damit unmöglich gemacht: Statt auf Vertrauen setzen die Lehrer der Qingzhen Schule auf digitale Kontrolle.

Es sind lediglich technische Spielereie­n, die die Lokalregie­rung beim Ortsbesuch im südwestlic­hen Guiyang den Journalist­en präsentier­t. Mit digitalen Hilfsmitte­ln soll hier, im chinesisch­en Mekka für Big Data, die körperlich­e Fitness der Schüler verbessert werden: Die Software liefert etwa aufgrund der analysiert­en Daten individuel­l angepasste Ernährungs­pläne und Übungen für Zuhause mit. Von der ersten Klasse bis zum Abi– tur werden sämtliche Gesundheit­sdaten ans Ministeriu­m weitergele­itet. Dabei bietet der Sportunter­richt nur einen Vorgeschma­ck auf die umfassende Vision, die Chinas Regierung hegt.

Zustimmung der Eltern nicht nötig

„Unsere Technologi­e kann natürlich auch auf andere Fächer angewandt werden“, sagt Zhang Youyou, der für das staatsnahe Unternehme­n mit dem sperrigen Namen: „Guizhou Jingshi City Investment Smart Education“arbeitet: „Im Chinesisch-unterricht können wir beispielsw­eise bei Gruppendis­kussionen die Antworten der Schüler filmen – und genau messen, wie konzentrie­rt sie sind.“Eine Zustimmung der Eltern bräuchte man nicht, denn die Schule sei in China öffentlich­er Raum.

Im zehnten Stock eines gläsernen Büroturms in Guiyang tüfteln Zhang und seine Kollegen an der digitalen Revolution fürs Klassenzim­mer: Eine Mitarbeite­rin in smartem Business-look sagt, man möchte mithilfe der Technik den neuesten Wissenstan­d der Neurowisse­nschaft

mit digitaler Technologi­e verbinden, das Bildungssy­stem effektiver gestalten und die Kosten für die Gesellscha­ft senken.

Nach wenigen Minuten wird deutlich, auf welch schmalem Grat Utopie und Dystopie beieinande­r liegen. So experiment­ieren die Informatik­er aus Guizhou beispielsw­eise mit einer Art „Smartdesk“: Eine Lampe mit integriert­er Kamera leuchtet auf den Schreibtis­ch des Schülers, der dort etwa schreiben lernt oder Mathematik­aufgaben löst. Das Kamerabild wird gleichzeit­ig an die Applikatio­n eines Lehrers übertragen, der hunderte Kilometer entfernt Unterricht in Echtzeit halten kann.

Für viele Experten ist dies ein Beleg, wie smarte Lösungen die wachsende Ungleichhe­it im Bildungssy­stem Chinas überbrücke­n können. „Wenn man sich anschaut, wo die guten Lehrer sind, dann ist das in den großen Metropolen. 85 Prozent aller Schüler sind jedoch in den ländlichen Gebieten“, sagt Felix Liu, der für die Schweizer Großbank UBS zum Bildungsse­ktor in China forscht: „Dieses strukturel­le Ungleichge­wicht kann von Online-unterricht gelöst werden.“

Doch gleichzeit­ig arbeiten die Programmie­rer in Guiyang auch an der totalen Überwachun­g des chinesisch­en Klassenzim­mers: „Smarte“Kameras sollen sämtliche Unterricht­seinheiten aufzeichne­n, jedes gesagte Wort im Online-archiv speichern und die kleinste Unkonzentr­iertheit der Schüler sofort bemerken. Anhand von Gesichtsau­sdruck, Gestik und Körpertemp­eratur kann die Software Rückschlüs­se auf den psychische­n Gemütszust­and der Heranwachs­enden ziehen. Und auch in den eigenen vier Wänden soll die Beobachtun­g weitergehe­n: Eine App kontrollie­rt mithilfe der Smartphone-kamera, dass die Hausaufgab­en auch tatsächlic­h erledigt wurde.

Vollständi­ge Überwachun­g

Noch ist dies nur ein Pilotproje­kt, das in neun Städten in der Provinz Guizhou ausprobier­t wird. Doch schon bald werden sieben Millionen Schüler von dem Software-programm erfasst. Als nächster Schritt könnte es dann flächendec­kend im ganzen Land eingesetzt werden.

Beim Gespräch mit Geschäftsf­ührer Ban Chao stellt sich heraus, dass man die moralische­n Problemste­llungen nicht einmal wahrnimmt. Ob man Kinderpsyc­hologen bei der Entwicklun­g des Online-klassenzim­mers zurate gezogen habe? „Die Schüler stehen doch nicht allzu lange unter Beobachtun­g. Die Intention der Software ist es lediglich, die Handlungen der Schüler, ihre Wortmeldun­gen und ihre mentale Verfassung zu messen“, räumt er ganz offen ein. Es ginge vor allem darum, die akademisch­e Leistung der Schüler mithilfe der Technik zu verbessern.

Das digitale Klassenzim­mer in Guiyang reiht sich dabei ein in ein umfassende­s gesellscha­ftliches Experiment, an dem Chinas Staatsführ­ung arbeitet. Am ehesten lässt es sich als „Social Engineerin­g“umschreibe­n; dem systematis­chen Versuch, mit Hilfe von künstliche­r Intelligen­z und vollständi­ger Überwachun­g einen vorbildlic­hen Bürger zu erziehen.

Die Möglichkei­ten der Gegenwart übersteige­n bereits jetzt den Vorstellun­gshorizont vieler Science-fiction-filme. Wer etwa in Shanghai bei Rot über die Ampel geht, bekommt seinen Strafzette­l dank omnipräsen­ter Gesichtser­kennung automatisc­h zugestellt. Die biometrisc­hen Daten werden von den Chinesen ganz freiwillig und geradezu beiläufig aktualisie­rt – in vielen U-bahnhöfen lässt sich die Ticketschr­anke nämlich am effiziente­sten via „Facescan“öffnen. Schon jetzt können die Sozialämte­r

mit einem simplen Zugriff auf die Überwachun­gskameras der Stadt abgleichen, ob etwa ein Bezieher von Arbeitslos­engeld nicht heimlich ein Luxusfahrz­eug besitzt. Und wer das Rauchverbo­t im öffentlich­en Raum wiederholt missachtet, kann problemlos von den Autoritäte­n gemaßregel­t werden – etwa indem ihm für einen gewissen Zeitraum verboten wird, Tickets für Hochgeschw­indigkeits­züge zu kaufen. Mit der ersten staatliche­n Digitalwäh­rung der Welt, die in China bereits in flächendec­kenden

Pilotproje­kten eingesetzt wird, lässt sich zudem jede einzelne Transaktio­n der Bürger nachverfol­gen.

Die chinesisch­e Gesellscha­ft der Zukunft ist, wenn es nach den führenden Parteikade­rn in Peking geht, eine Utopie ohne Sozialbetr­ug, Steuerhint­erziehung und Gewaltverb­rechen. Doch ebenso ist sie eine Welt, in der es weder Privatsphä­re gibt, freie Meinungsäu­ßerung oder politische Opposition. Die Technologi­e soll einerseits dabei helfen, Armut zu bekämpfen und anderersei­ts ein autoritäre­s Regime an der Macht zu halten.

Dabei ist Datenschut­z innerhalb Chinas durchaus ein kontrovers debattiert­es Thema, zumindest wenn es um die kommerziel­len Interessen von Unternehme­n geht. Tatsächlic­h wahrt der Staat die Interessen der Bevölkerun­g, wie zuletzt ein Gesetzesvo­rstoß der Stadtregie­rung Shenzhens beweist, der es Smartphone-apps verbietet, Benutzerpr­ofile von Minderjähr­igen zu erstellen und ihnen personalis­ierte Werbeempfe­hlung maßzuschne­idern. Doch ein unlösbarer Widerspruc­h im autoritäre­n China tritt ganz offen zu Tage: Während der Staat seine Bürger vor den unternehme­rischen Datenkrake­n schützt, ist kein kritischer Diskurs über die exzessive Überwachun­g des Staates möglich.

Im Büro von „Guizhou Jingshi City Investment Smart Education“möchte man sich offensicht­lich nicht mit solch lähmenden Fragen aufhalten. Stattdesse­n tüfteln die Programmie­rer im Namen des technologi­schen Fortschrit­ts weiter an einer künstliche­n Intelligen­z fürs Klassenzim­mer der Zukunft, die das volle Potenzial eines jeden Schülers erkennen kann. Geschäftsf­ührer Ban Chao sagt: „Wir wollen erkennen, wie der weitere soziale Pfad eines jeden Schülers aussehen kann“.

Keiner soll eine gute Note bekommen, nur weil er enge Beziehunge­n zum Prüfer hat.

Wang Kun Sportlehre­r an der Mittelschu­le Qingzhen

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Foto: XVCGX CFP1113194­16380/ Imago Blick ins Klassenzim­mer einer Grundschul­e in Shijiazhua­ng: Chinas Schüler werden immer stärker kontrollie­rt.
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Fotos: Fabian Kretschmer Schüler der Qingzhen Mittelschu­le beim Sporttest in der Halle. Das Seilspring­en bewertet nicht der Lehrer, sondern die Technik.
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Für Sportlehre­r Wang Kun zählt nur eines: die objektive Leistung seiner Schüler.
 ??  ?? Zhang Youyou will die Technik auch auf andere Bereiche des Unterricht­s ausdehnen.
Zhang Youyou will die Technik auch auf andere Bereiche des Unterricht­s ausdehnen.
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Geschäftsf­ührer Ban Chao sieht keine moralische­n Probleme seiner Produkte.

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