Wo einst Königin Charlotte vesperte
Seit erstaunlichen 90 Jahren gehört Hugo Strauß dem TV Hürben an. Der Enkel des ersten Höhlen-besteigers erinnert sich noch gut an turnerische Pioniertage.
Hugo Strauß ist 96 Jahre alt, aber sein Gedächtnis funktioniert noch ohne Fehl und Tadel. Vor allem, wenn es um die Charlottenhöhle geht, durch die er über 30 Jahre lang Besucherinnen und Besucher von nah und fern geführt hat, macht dem Hürbener so schnell niemand etwas vor. „Am 9. Mai 1893 wurde die Höhle entdeckt. Nur gut vier Monate später, am 17. September, fand die Einweihung statt“, ruft er die Daten ab. Es sei schon eine große Leistung gewesen damals, die faszinierende Tropfsteinwelt so schnell der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies war wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass sich auch die württembergische Königin Charlotte sehr für die neu entdeckte Hürbener Unterwelt interessierte und sich zeitnah zur Besichtigung ankündigte.
Turnen in der Holzhalle
„Jetzt brauchte man natürlich auch einen Ort, wo die Königin vespern konnte“, weiß Hugo Strauß. Und deshalb wurde eine Holzhalle am Fuße der Höhle erstellt – etwa dort, wo heute die Erlebniswelt interaktive Einblicke in längst vergangene Zeiten gewährt. Diese Holzhalle spielt wiederum in der Geschichte des TV Hürben eine nicht unbedeutende Rolle. Denn bis zu deren Abriss im Jahr 1950 wurde hier eifrig geturnt.
Das Elternhaus von Hugo Strauß befand sich unmittelbar hinter jener bescheidenen Sportstätte, in der einst Charlotte königlich bewirtet wurde. Schon deshalb lag es nahe, dass auch Hugo Strauß alsbald am Reck den Felgumschwung übte. Als Sechsjähriger schloss er sich 1931 dem TV Hürben an. „Mein kompletter Jahrgang ging damals zum Turnen“, erinnert sich der heute 96-Jährige. „Was konnte man auch sonst tun? Es gab ja seinerzeit noch nicht mal Turnunterricht an der Schule.“Die Aufnahme in den Verein, der Hugo Strauß kürzlich für stattliche 90-jährige Mitgliedschaft ehrte, erfolgte ohne großen bürokratischen Aufwand: „Unsere Namen wurden notiert – das war’s.“
Die Übungsstünden verliefen ohne allzu große Vorbereitungen. Die Großen hätten die Kleinen unterstützt, erinnert sich Strauß. Reck, Barren, ein kleines Pferd, ein Sprungbrett und ein Schleuderball: Sehr viel mehr an Geräten stand den Hürbenern nicht zur Verfügung.
Geschätzte Schnitzeljagd
Vor allem eine Aktivität wussten die jungen Sportler von damals zu schätzen: die Schnitzeljagd. „Da wurden alte Zeitungen zerrissen“, erinnert sich Strauß, mit deren Hilfe Spuren gelegt wurden. Vier Mal im Jahr organisierte der TV Hürben eine solche Gaudi rund ums Dorf.
Karriere als Turner oder Leichtathlet konnte Hugo Strauß indessen nicht machen. Er war nie bei einem Wettkampf oder Turnfest dabei. „Die meiste Zeit war ich nur Mitglied“, sagt er. 1943, gerade vier Jahre nach seiner Konfirmation, musste er als Soldat in den Zweiten Weltkrieg, geriet in Gefangenschaft und kam 1946 nach Hürben zurück.
Die Leidenschaft für sportliche Aktivitäten wich danach der Liebe und dem ehrenamtlichen Engagement für seinen Heimatort – insbesondere für die Charlottenhöhle. Der Bezug zum unterirdischen Naturparadies war ihm quasi schon in die Wiege gelegt worden, denn sein Großvater, Friedrich Strauß, war der erste Mensch, der die Hürbener Höhle betrat. Friedrich Strauß war Zimmermann – ebenso wie Jakob Beutler und Kaspar Schlumpberger. Für Zimmerleute
habe es damals während der Herbst- und Wintermonate nicht viel zu tun gegeben, und deshalb arbeiteten sie in der kalten Jahreszeit vorwiegend im Wald. Oberförster Hermann Emil Sihler animierte die drei Waldarbeiter, sich mit einer Strickleiter über das Hundsloch, über das die Bevölkerung vermutlich schon seit dem Mittelalter Kadaver von Haustieren entsorgte, in die Tiefe zu lassen.
Großvater war der Erste
„Mein Großvater war der Erste, der hinunterstieg. Er war ein stattlicher Mann, etwa 1,80 Meter groß. Und das war wohl notwendig, um hinunterzukommen. Die anderen beiden waren deutlich kleiner“, erzählt Hugo Strauß. Die Strickleiter war 15 Meter lang, reichte aber nicht zum Boden. Friedrich Strauß musste springen – und landete auf einem Knochenhaufen. Ungezählte Male hat Hugo Strauß diese Geschichte bei Höhlenführungen erzählt.
Vor etwa zehn Jahren hat er sich von diesem Ehrenamt verabschiedet. Vor allem mit seinen fünf Urenkeln sucht er aber immer mal wieder die Tropfsteinwelt auf: „Die sollen doch sehen, wo der Uropa einst seine Freizeit verbracht hat.“