Plötzlich Kronprinz
Weder Finanzskandale noch sein Image als „Scholzomat“können dem Spd-spitzenkandidaten für die Bundestagswahl etwas anhaben. Im Gegenteil: Laut aktuellen Umfragen liegt er auf Kanzlerkurs. Wie konnte das passieren?
Ist das zu fassen? Hat die SPD neuerdings Verbindungen zu höheren Mächten? Nach all den Jahren der babylonischen Gefangenschaft in der Großen Koalition, nach immer neuen, demütigenden Umfragetiefs, nachdem man so viele Parteivorsitzende verschlissen hat? Und nun liegen die Sozialdemokraten auf Kanzlerkurs und auf den Berliner Bebelplatz scheint an diesem Spätaugust-freitag die Sonne, als ob nicht alle Wetterberichte ausgiebigen und andauernden Regen versprochen hätten.
Olaf Scholz hat das vorausgesagt. Schon im April im Interview mit dieser Zeitung hatte er das Rennen für „völlig offen“erklärt. Was soll er auch sagen, haben die meisten damals gedacht. Aber Scholz war tatsächlich recht präzise. „Die SPD kann den Kanzler stellen, wenn sie deutlich mehr als 20 Prozent holt. Und das werden wir schaffen“, sagte Scholz, als seine Partei bei 15 Prozent lag und die Frage diskutiert wurde, ob sie sich mit einem Kanzlerkandidaten nicht lächerlich mache.
Der Platz zwischen Berliner Staatsoper, St. Hedwigs-kathedrale und der Juristischen Fakultät der Humboldt-uni ist gut gefüllt. Kevin Kühnert, Scholz’ einstiger politischer Gegner in der eigenen Partei, gibt den Conférencier. Noch vor einem Jahr brauchte Kühnert viele Worte, um zu begründen, warum auch er findet, dass Scholz der richtige Kanzlerkandidat ist. Einen Sommer später werden andere Töne angeschlagen. Jetzt kündigt er denjenigen an, „dessen großer roter Balken in den Umfragen immer größer wird. Den Mann, der manchmal schlumpfig grinst, aber nie an der unpassenden Stelle lacht.“Und Kühnert legt noch einen drauf: „Begrüßen Sie mit mir den Kraftriegel des Bundestagswahlkampfes 2021.“
Der „Kraftriegel“steht mit Hemd und ohne Jackett auf der Bühne. Er spricht frei, was ihn allerdings noch nicht zum guten Redner macht. Der 63-Jährige überzeugt nicht mit zündenden Ansprachen, sondern vor allem damit, dass er schon so lange in der Politik ist und seit 20 Jahren hohe politische Ämter bekleidet, darunter das des Spd-generalsekretärs, des Bundesarbeitsministers, des Bürgermeisters von Hamburg und jetzt des Finanzministers und Vizekanzlers.
Er fängt mit Afghanistan an. Der Einsatz war grundsätzlich richtig, sagt Scholz. Nur bitter, dass es so zu Ende ging. Dann Corona. Schließlich Kinderarmut. Will die SPD bekämpfen. Klar. Aber war dafür nicht auch in den langen Regierungsjahren zuvor Zeit? So etwas fragt auf dem Bebelplatz niemand. Nicht an diesem Tag. Scholz verspricht ein stabiles Rentenniveau. „Eine wichtige Garantie auch für die Jugend im Land.“Kein Wort darüber, dass das Rentenniveau im europäischen Vergleich recht niedrig ist. Da klingt „Stabilität“nur bedingt verheißungsvoll.
Scholz sagt dann noch, was er immer sagt, seitdem die Umfragen ihn in der Wählergunst für das Kanzleramt weit vorn sehen. Er sei „berührt“davon, „dass so viele mir das Amt zutrauen“. Auf dieser Wahlveranstaltung zeigt er sich zwar „gerührt“. Aber alle wissen, was gemeint ist. Und die Genossen freuen sich, dass ihr Spitzenkandidat Emotionen zeigt. Dabei passiert das öfter als man denkt. Vor allem, wenn Scholz über seine Frau spricht, die Brandenburger Bildungsministerin Britta Ernst. Auf seiner Internetseite vervollständigt er den Satz „Meine Frau bedeutet für mich“mit: „alles“.
Gegen Klischees kann Scholz indes nicht viel machen. Der „Scholzomat“hängt ihm immer noch an. In einem Gespräch mit der „Zeit“sagte er, dass er diesen Begriff für die damalige Zeit akzeptiere. Damit gemeint ist vor allem das Jahr 2003, als er als Spd-generalsekretär die Agenda 2010 verteidigen musste, sich als „Offizier“empfand und sicherheitshalber unverfängliche Sprechblasen von sich gab.
Als er das erzählte, war Scholz Erster Bürgermeister in Hamburg. In der Freien und Hansestadt hat er grandiose Wahlsiege eingefahren. Und das wohl kaum als der Roboter, als den ihn noch 2020 das Ndr-magazin „extra3“beschrieb. Die entsprechende Satire hieß „Sherlock und der Scholzomat“. Ein nur mäßig lustiger Sketch, der Scholz aber in Teilen freilich zu Recht eine Teflon-außenschicht bescheinigte, an der alles abpralle: Cumex-skandal. Wirecard-skandal. Und als beim G20-gipfel Teile Hamburgs in Schutt und Asche gelegt wurden, saß Scholz in der Elbphilharmonie und genoss ein Konzert.
Dass er die Schutzbedürftigkeit seiner Stadt seinerzeit falsch eingeschätzt hat, bezeichnet er mittlerweile als „größten Fehler in seiner politischen Laufbahn“. Wenn es dagegen um Cumex und um Wirecard geht, winken die meisten Beobachter ab. „Zu kompliziert“, um noch schädlich im Wahlkampf zu sein – so die allgemeine Einschätzung. Und tatsächlich versucht es die Union eher mit einer altbackenen „Rote-socken“-kampagne als mit diesen Finanzskandalen, von denen die meisten nur wissen, dass der Spitzenkandidat irgendwie, ein bisschen, vielleicht, verwickelt war.
Dabei hat sich einiges angesammelt. Nicht zuletzt im Wirecard-untersuchungsausschuss des Bundestages. Bei Wirecard geht es immerhin um den größten deutschen Bilanzskandal der Nachkriegsgeschichte. Den hat die Finanzaufsicht des Bundes (Bafin) übersehen – und damit auch der zuständige Scholz. Das falle „dem Finanzminister auf die Füße, insbesondere, wenn er Bundeskanzler werden will“, befand der linke Politiker Fabio De Masi. Es sieht nicht danach aus, als ob er Recht behält. „Das Prinzip Olaf Scholz“, so De Masi, „sich nicht mehr zu bewegen und nicht mehr zu äußern, als es unbedingt nötig ist“, war offensichtlich erfolgreich. Die Spitze der Bafin wurde ausgetauscht, eine Reform der Aufsicht angekündigt – Fall erledigt.
Bei Cum-ex, also bei der Affäre, bei der sich Finanzspekulanten Steuern vom Staat zurückholten, die sie gar nicht gezahlt hatten, ist eine Mitschuld des Spd-kanzlerkandidaten noch schwieriger zu beweisen. Zwar sind neue Details aufgetaucht, die zu belegen scheinen, dass die Warburg-bank absichtlich bei anstehenden Millionen-rückzahlungen verschont wurde. Aber so wie es aussieht, richten sich die direkten Vorwürfe gegen den jetzigen Ersten Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher (SPD), der unter Scholz Finanzsenator war. Wenn nichts Schwerwiegenderes ans Tageslicht kommt, wird auch dieser Skandal an Scholz abprallen.
Was aber hat nun zu der neuen Popularität des Olaf Scholz geführt, außer dass er politisch scheinbar kaum angreifbar ist und sich als Merkel-erbe vorstellt? Der Wahlkampfexperte Frank Stauss sieht dafür mehrere Gründe. Schon im April schrieb Stauss, der viele Wahlkämpfe für die SPD und Olaf Scholz bestritten hat, in seinem Blog: „Olaf Scholz notiert seit Jahren stabil im oberen Drittel der beliebtesten Politiker Deutschlands. Er hat zwei Landtagswahlen fulminant gewonnen und Regierungserfahrung wie kein zweiter. Er kann Ende September der richtige Mann zur richtigen Zeit sein, auch wenn es jetzt im April das unwahrscheinlichste Szenario ist.“
Siegessichere Genossen
Es kamen glückliche Umstände hinzu. Grüne und Union kürten Spitzenkandidaten, die unpopulärer sind als die Konkurrenten, gegen die sie sich durchsetzten. Doch damit nicht genug. „Das Ausmaß an Dilettantismus der Laschet- und Baerbock-kampagnen raubt einem den Atem“, meint Stauss, der der Ansicht ist, dass Scholz der ideale Gegenentwurf zu Baerbock und Laschet ist. Die Welt sei unübersichtlich. „Und je orientierungsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm.“
Im Willy-brandt-haus hört man es gar nicht gern, wenn gesagt wird, Scholz verdanke seinen plötzlichen Umfrageboom vor allem der schwächelnden Konkurrenz. Die Begeisterung, die praktisch alle in der SPD neuerdings zeigen, ist echt. Man hat zu lange in einen Abgrund geschaut, auf dessen Boden schon das Ende der ältesten Partei Deutschlands zu sehen war. Und deswegen gibt es jetzt nur noch Scholz. „Scholz packt das an.“Nicht die SPD, nicht Kühnert, Norbert Walter-borjans oder Saskia Esken – Scholz macht das. Darauf hat man sich in der SPD geeinigt. Sollen die anderen doch unken, Saskia Esken sei geknebelt und eingemauert worden. Am Ende werden die Genossen lachen. Dessen sind sie sich jeden Tag sicherer.
Und das Beste ist, scheinbar unberechenbare Führungskader, wie die erwähnte Parteivorsitzende, machen enthusiastisch mit. „Ich will da sein, wenn Olaf Scholz unseren Plan für Deutschland zeigt“twitterte Saskia Esken auf dem Weg zum Rtl-triell am Sonntag. Später kritisierte sie die Fernsehdebatte, in der ihr zu wenig Politik besprochen wurde, lobte aber Scholz, dem es gelungen sei, aufzuzeigen, wie man das Leben vieler Menschen besser machen könne. Scholz hat Esken neulich im Gegenzug „ministrabel“genannt. Welche Emotionen bei dieser Äußerung mitschwangen, ist allerdings nicht bekannt.
Je orientierungsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm.
Frank Stauss
Wahlkampfexperte