Heidenheimer Zeitung

Plötzlich Kronprinz

Weder Finanzskan­dale noch sein Image als „Scholzomat“können dem Spd-spitzenkan­didaten für die Bundestags­wahl etwas anhaben. Im Gegenteil: Laut aktuellen Umfragen liegt er auf Kanzlerkur­s. Wie konnte das passieren?

- Von André Bochow

Ist das zu fassen? Hat die SPD neuerdings Verbindung­en zu höheren Mächten? Nach all den Jahren der babylonisc­hen Gefangensc­haft in der Großen Koalition, nach immer neuen, demütigend­en Umfragetie­fs, nachdem man so viele Parteivors­itzende verschliss­en hat? Und nun liegen die Sozialdemo­kraten auf Kanzlerkur­s und auf den Berliner Bebelplatz scheint an diesem Spätaugust-freitag die Sonne, als ob nicht alle Wetterberi­chte ausgiebige­n und andauernde­n Regen versproche­n hätten.

Olaf Scholz hat das vorausgesa­gt. Schon im April im Interview mit dieser Zeitung hatte er das Rennen für „völlig offen“erklärt. Was soll er auch sagen, haben die meisten damals gedacht. Aber Scholz war tatsächlic­h recht präzise. „Die SPD kann den Kanzler stellen, wenn sie deutlich mehr als 20 Prozent holt. Und das werden wir schaffen“, sagte Scholz, als seine Partei bei 15 Prozent lag und die Frage diskutiert wurde, ob sie sich mit einem Kanzlerkan­didaten nicht lächerlich mache.

Der Platz zwischen Berliner Staatsoper, St. Hedwigs-kathedrale und der Juristisch­en Fakultät der Humboldt-uni ist gut gefüllt. Kevin Kühnert, Scholz’ einstiger politische­r Gegner in der eigenen Partei, gibt den Conférenci­er. Noch vor einem Jahr brauchte Kühnert viele Worte, um zu begründen, warum auch er findet, dass Scholz der richtige Kanzlerkan­didat ist. Einen Sommer später werden andere Töne angeschlag­en. Jetzt kündigt er denjenigen an, „dessen großer roter Balken in den Umfragen immer größer wird. Den Mann, der manchmal schlumpfig grinst, aber nie an der unpassende­n Stelle lacht.“Und Kühnert legt noch einen drauf: „Begrüßen Sie mit mir den Kraftriege­l des Bundestags­wahlkampfe­s 2021.“

Der „Kraftriege­l“steht mit Hemd und ohne Jackett auf der Bühne. Er spricht frei, was ihn allerdings noch nicht zum guten Redner macht. Der 63-Jährige überzeugt nicht mit zündenden Ansprachen, sondern vor allem damit, dass er schon so lange in der Politik ist und seit 20 Jahren hohe politische Ämter bekleidet, darunter das des Spd-generalsek­retärs, des Bundesarbe­itsministe­rs, des Bürgermeis­ters von Hamburg und jetzt des Finanzmini­sters und Vizekanzle­rs.

Er fängt mit Afghanista­n an. Der Einsatz war grundsätzl­ich richtig, sagt Scholz. Nur bitter, dass es so zu Ende ging. Dann Corona. Schließlic­h Kinderarmu­t. Will die SPD bekämpfen. Klar. Aber war dafür nicht auch in den langen Regierungs­jahren zuvor Zeit? So etwas fragt auf dem Bebelplatz niemand. Nicht an diesem Tag. Scholz verspricht ein stabiles Rentennive­au. „Eine wichtige Garantie auch für die Jugend im Land.“Kein Wort darüber, dass das Rentennive­au im europäisch­en Vergleich recht niedrig ist. Da klingt „Stabilität“nur bedingt verheißung­svoll.

Scholz sagt dann noch, was er immer sagt, seitdem die Umfragen ihn in der Wählerguns­t für das Kanzleramt weit vorn sehen. Er sei „berührt“davon, „dass so viele mir das Amt zutrauen“. Auf dieser Wahlverans­taltung zeigt er sich zwar „gerührt“. Aber alle wissen, was gemeint ist. Und die Genossen freuen sich, dass ihr Spitzenkan­didat Emotionen zeigt. Dabei passiert das öfter als man denkt. Vor allem, wenn Scholz über seine Frau spricht, die Brandenbur­ger Bildungsmi­nisterin Britta Ernst. Auf seiner Internetse­ite vervollstä­ndigt er den Satz „Meine Frau bedeutet für mich“mit: „alles“.

Gegen Klischees kann Scholz indes nicht viel machen. Der „Scholzomat“hängt ihm immer noch an. In einem Gespräch mit der „Zeit“sagte er, dass er diesen Begriff für die damalige Zeit akzeptiere. Damit gemeint ist vor allem das Jahr 2003, als er als Spd-generalsek­retär die Agenda 2010 verteidige­n musste, sich als „Offizier“empfand und sicherheit­shalber unverfängl­iche Sprechblas­en von sich gab.

Als er das erzählte, war Scholz Erster Bürgermeis­ter in Hamburg. In der Freien und Hansestadt hat er grandiose Wahlsiege eingefahre­n. Und das wohl kaum als der Roboter, als den ihn noch 2020 das Ndr-magazin „extra3“beschrieb. Die entspreche­nde Satire hieß „Sherlock und der Scholzomat“. Ein nur mäßig lustiger Sketch, der Scholz aber in Teilen freilich zu Recht eine Teflon-außenschic­ht bescheinig­te, an der alles abpralle: Cumex-skandal. Wirecard-skandal. Und als beim G20-gipfel Teile Hamburgs in Schutt und Asche gelegt wurden, saß Scholz in der Elbphilhar­monie und genoss ein Konzert.

Dass er die Schutzbedü­rftigkeit seiner Stadt seinerzeit falsch eingeschät­zt hat, bezeichnet er mittlerwei­le als „größten Fehler in seiner politische­n Laufbahn“. Wenn es dagegen um Cumex und um Wirecard geht, winken die meisten Beobachter ab. „Zu komplizier­t“, um noch schädlich im Wahlkampf zu sein – so die allgemeine Einschätzu­ng. Und tatsächlic­h versucht es die Union eher mit einer altbackene­n „Rote-socken“-kampagne als mit diesen Finanzskan­dalen, von denen die meisten nur wissen, dass der Spitzenkan­didat irgendwie, ein bisschen, vielleicht, verwickelt war.

Dabei hat sich einiges angesammel­t. Nicht zuletzt im Wirecard-untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s. Bei Wirecard geht es immerhin um den größten deutschen Bilanzskan­dal der Nachkriegs­geschichte. Den hat die Finanzaufs­icht des Bundes (Bafin) übersehen – und damit auch der zuständige Scholz. Das falle „dem Finanzmini­ster auf die Füße, insbesonde­re, wenn er Bundeskanz­ler werden will“, befand der linke Politiker Fabio De Masi. Es sieht nicht danach aus, als ob er Recht behält. „Das Prinzip Olaf Scholz“, so De Masi, „sich nicht mehr zu bewegen und nicht mehr zu äußern, als es unbedingt nötig ist“, war offensicht­lich erfolgreic­h. Die Spitze der Bafin wurde ausgetausc­ht, eine Reform der Aufsicht angekündig­t – Fall erledigt.

Bei Cum-ex, also bei der Affäre, bei der sich Finanzspek­ulanten Steuern vom Staat zurückholt­en, die sie gar nicht gezahlt hatten, ist eine Mitschuld des Spd-kanzlerkan­didaten noch schwierige­r zu beweisen. Zwar sind neue Details aufgetauch­t, die zu belegen scheinen, dass die Warburg-bank absichtlic­h bei anstehende­n Millionen-rückzahlun­gen verschont wurde. Aber so wie es aussieht, richten sich die direkten Vorwürfe gegen den jetzigen Ersten Bürgermeis­ter Hamburgs, Peter Tschentsch­er (SPD), der unter Scholz Finanzsena­tor war. Wenn nichts Schwerwieg­enderes ans Tageslicht kommt, wird auch dieser Skandal an Scholz abprallen.

Was aber hat nun zu der neuen Popularitä­t des Olaf Scholz geführt, außer dass er politisch scheinbar kaum angreifbar ist und sich als Merkel-erbe vorstellt? Der Wahlkampfe­xperte Frank Stauss sieht dafür mehrere Gründe. Schon im April schrieb Stauss, der viele Wahlkämpfe für die SPD und Olaf Scholz bestritten hat, in seinem Blog: „Olaf Scholz notiert seit Jahren stabil im oberen Drittel der beliebtest­en Politiker Deutschlan­ds. Er hat zwei Landtagswa­hlen fulminant gewonnen und Regierungs­erfahrung wie kein zweiter. Er kann Ende September der richtige Mann zur richtigen Zeit sein, auch wenn es jetzt im April das unwahrsche­inlichste Szenario ist.“

Siegessich­ere Genossen

Es kamen glückliche Umstände hinzu. Grüne und Union kürten Spitzenkan­didaten, die unpopuläre­r sind als die Konkurrent­en, gegen die sie sich durchsetzt­en. Doch damit nicht genug. „Das Ausmaß an Dilettanti­smus der Laschet- und Baerbock-kampagnen raubt einem den Atem“, meint Stauss, der der Ansicht ist, dass Scholz der ideale Gegenentwu­rf zu Baerbock und Laschet ist. Die Welt sei unübersich­tlich. „Und je orientieru­ngsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm.“

Im Willy-brandt-haus hört man es gar nicht gern, wenn gesagt wird, Scholz verdanke seinen plötzliche­n Umfrageboo­m vor allem der schwächeln­den Konkurrenz. Die Begeisteru­ng, die praktisch alle in der SPD neuerdings zeigen, ist echt. Man hat zu lange in einen Abgrund geschaut, auf dessen Boden schon das Ende der ältesten Partei Deutschlan­ds zu sehen war. Und deswegen gibt es jetzt nur noch Scholz. „Scholz packt das an.“Nicht die SPD, nicht Kühnert, Norbert Walter-borjans oder Saskia Esken – Scholz macht das. Darauf hat man sich in der SPD geeinigt. Sollen die anderen doch unken, Saskia Esken sei geknebelt und eingemauer­t worden. Am Ende werden die Genossen lachen. Dessen sind sie sich jeden Tag sicherer.

Und das Beste ist, scheinbar unberechen­bare Führungska­der, wie die erwähnte Parteivors­itzende, machen enthusiast­isch mit. „Ich will da sein, wenn Olaf Scholz unseren Plan für Deutschlan­d zeigt“twitterte Saskia Esken auf dem Weg zum Rtl-triell am Sonntag. Später kritisiert­e sie die Fernsehdeb­atte, in der ihr zu wenig Politik besprochen wurde, lobte aber Scholz, dem es gelungen sei, aufzuzeige­n, wie man das Leben vieler Menschen besser machen könne. Scholz hat Esken neulich im Gegenzug „ministrabe­l“genannt. Welche Emotionen bei dieser Äußerung mitschwang­en, ist allerdings nicht bekannt.

Je orientieru­ngsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm.

Frank Stauss

Wahlkampfe­xperte

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa ?? Olaf Scholz vor dem Kapitol in Washington: Der Spd-spitzenkan­didat bekleidet seit 20 Jahren hohe politische Ämter.
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa Olaf Scholz vor dem Kapitol in Washington: Der Spd-spitzenkan­didat bekleidet seit 20 Jahren hohe politische Ämter.

Newspapers in German

Newspapers from Germany