Ein Pfarrer als Detektiv
Welcher Heilige liegt in der Herbrechtinger Klosterkirche?
Da hat man über lange Zeit einen falschen katholischen Heiligen in einer evangelischen Kirche verehrt.“Pfarrer Michael Rau muss schmunzeln, als er dies sagt. Denn er selbst ist es, der die Verwechslung nun enthüllt hat.
Zweifel daran, dass wirklich eine Reliquie des heiligen Veranus in der Herbrechtinger Klosterkirche aufbewahrt wird, hatte Rau schon bald nach seinem Amtsantritt vor drei Jahren. Beim Inspizieren seiner neuen Wirkungsstätte war ihm in der Klosterkirche aufgefallen, dass auf der im 14. Jahrhundert gefertigten Grabplatte des Heiligen als Name Faro aus Meaux eingemeißelt war. Allerdings hatte Rau schon sehr genau hinschauen müssen, um die damals benutzten Schriftzeichen samt Abkürzungen und Schmuckzeichen lesen zu können.
Aber auch Pfarrer Hans Ulrich Götz hatte bereits deutlich vor Rau Zweifel in Sachen Veranus und Herbrechtingen angemeldet. In seinem Beitrag für den nach Abschluss der Sanierung des Klosters aufgelegten Bildband bezeichnete Götz bereits vor annähernd 20 Jahren die Vorstellung, dass die Gebeine des Veranus tief unter dem Chor der Kirche ruhten, als „liebenswürdige Phantasie“. Denn beide mit dem Namen Veranus überlieferten Heiligen, die beide im 5. Jahrhundert gelebt haben, seien nachweislich in Frankreich begraben. So werde die Reliquie den Bischofs von Vence seit 1154 in Vence verehrt, die Reliquien des zweiten Veranus, des Bischofs von Cavaillon bei Avignon, fänden sich in der Diözese Orléans in der von ihm geweihten Kirche von Jargeau.
Den Namen Veranus bringt aber just die Urkunde ins Spiel, die Herbrechtingen geschichtsträchtig macht, da in ihr zum ersten Mal Herbrechtingen als Ort genannt wird. Es ist die im Jahr 774 von Karl dem Großen an Abt Fulrad adressierte Schenkungsurkunde. Darin heißt es in deutscher Übersetzung: „Und so schenken wir unser Dorf Herbrechtingen dem Heiligtum der Kirche des heiligen Märtyrers Dionysius, wo der
Leichnam des heiligen Märtyrers Veranus liegt, an dem Ort, der Herbrechtingen genannt wird . . .“
Und so blieb es im kollektiven Gedächtnis: Abt Fulrad von St. Denis bei Paris veranlasst 774 den Bau einer Kirche in Herbrechtingen und lässt dort die Gebeine des heiligen Veranus beisetzen.
Pfarrer Rau hatte schließlich seine Zweifel hintangestellt, aber nicht ruhen lassen. Vor einigen Monaten begann seine intensive
Recherche. Ad fontes, zu den Quellen, lautet der Imperativ der Historiker, dem auch Rau seine Arbeit unterwarf.
Den Inhalt der Schenkungsurkunde kennt man im Wesentlichen von deren 1849 vorgenommenen Transkription für den ersten Band des Wirtembergischen Urkundenbuchs.
Rau kam sein gutes Gedächtnis zugute. Er erinnerte sich, dass im 1974 erschienenen Buch „1200 Jahre Herbrechtingen“die originale
Urkunde abgebildet war. Zum Glück in solcher Größe, dass die Schrift lesbar war. Und Rau machte sich selbst ans Übersetzen des Lateinischen. „Das war wirklich schwierig“, sagt Rau, und man darf ihm da Glauben schenken. Denn ein Laie tut sich schon schwer, in der karolingischen Minuskelschrift überhaupt Buchstaben zu identifizieren. Die schlanken Zeichen stehen so eng aufeinander wie die Zähne eines Kamms.
Am Ende seines Studiums war sich Rau aber sicher, dass die Stelle, an der im Wirtembergischen Urkundenbuch Veranus steht, mit Gewissheit Faronus gelesen werden muss. Warum der Transkribent im Jahr 1849 zu einem anderen Ergebnis gekommen war? Rau kann nur raten. „Vielleicht war ihm der heilige Veranus einfach geläufiger.“Zudem, die ähnlich geschriebenen Namen seien auch leicht zu verwechseln, zumal damals ein Buchstabe für F und V stand.
Auch zeitlich fügt sich Faro für Rau gut in das Herbrechtinger Geschehen. Faro, der Bischof von Meaux war um das Jahr 672 verstorben und damit 200 Jahre später als beide Heiligen mit dem Namen Veranus. Dass der Tod des Benediktiners von Faro deutlich näher an dem Bau einer Kirche in Herbrechtingen liegt, macht es für Rau auch wahrscheinlicher, dass dessen Gebeine exhumiert und ins Brenztal gebracht wurden. Zudem, wie Abt Fulrad war Faro in seinem zivilen Leben ein sehr hoher Amtsträger am Königshof in Frankreich gewesen.
Ein Irrtum ist aufgeklärt. Man könnte aber auch mehr darin sehen, wenn ein evangelischer Pfarrer sich der katholischen Heiligen so sorgfältig annimmt.