Heidenheimer Zeitung

„Klotzen und nicht kleckern“

Der Präsident des Städtetags Baden-württember­g, Peter Kurz, über Defizite des Bildungssy­stems, Döner als Impfanreiz und die Schleifspu­ren der Pandemie in den kommunalen Haushalten.

- Von Roland Muschel

Im Ehrenamt Präsident des Städtetags, im Hauptberuf Oberbürger­meister von Mannheim: Kaum aus dem Urlaub zurück, hat Peter Kurz (SPD) wieder einen vollen Terminkale­nder. Für das Gespräch nimmt er sich dennoch fast eineinhalb Stunden Zeit, es dreht sich ums Impfen, abgehängte Schüler – und das liebe Geld.

Wie hoch ist in Ihrer Stadt Mannheim die Impfquote?

Peter Kurz:

Wir liegen bei der Impfquote im Landesschn­itt. Angesichts der sozialen Struktur Mannheims ist das ein Erfolg.

Wie erreichen Sie Unentschlo­ssene?

Wir haben relativ früh, als die Nachfrage noch größer war als das Angebot, auch in den Stadtteile­n mit schwierige­n sozialen Lagen Impfungen angeboten. Da haben sich Schlangen gebildet, das hatte in manchen Stadtteile­n Eventchara­kter. Inzwischen ist es viel mühsamer, die Impfquote weiter zu erhöhen. Dazu brauchen wir aber weiter Präsenz in der Fläche und niederschw­ellige Angebote jenseits der Hausärzte.

Dazu zählen Sie auch Prämien wie Döner oder Bratwurst?

Warum nicht? Wir haben als Stadt gemeinsam mit der City Werbegemei­nschaft die Aktion „In den Arm, auf die Hand“gestartet: Wer sich impfen lässt, erhält etwa einen Döner Kebap gratis. Das motiviert nicht Massen, aber doch die eine oder den anderen. Dass sich Geschäfte und Restaurant­s hier mit freiwillig­en Leistungen engagieren, ist auch ein Signal: Den Kampf gegen Corona können wir nur gemeinsam gewinnen.

Wie viele, schätzen Sie, sind fürs Impfen unerreichb­ar?

Die Quote derer, die fürs Impfen völlig unerreichb­ar sind, liegt vielleicht bei fünf Prozent. Darauf deuten Daten des RKI hin, das deckt sich mit meiner Einschätzu­ng. Schwer zu erreichen sind bis zu 15 Prozent. Ein großer Teil derer, die jetzt noch zögern, agiert aus Bequemlich­keit oder einer falschen Kosten-nutzen-rechnung. Wenn die Nachteile im öffentlich­en Leben für Ungeimpfte größer werden und vor allem klarer wird, dass für diese Gruppe eine Infizierun­g auf der Zeitachse hoch wahrschein­lich ist, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Da werden noch einige umdenken.

Also keine Impfpflich­t?

Die Politik in Berlin hat sich früh gegen eine Impfpflich­t ausgesproc­hen. Falls die Impfquote stagniert bevor die Pandemie gestoppt ist, wird die Frage aber wieder auf die Tagesordnu­ng kommen. Daher würde ich eine Impfpflich­t für bestimmte Berufsgrup­pen nicht ausschließ­en.

Fürs neue Schuljahr verspricht Stuttgart Präsenzunt­erricht. Wird genügend für den Schutz der Schülerinn­en und Schüler getan?

Wir haben Maskenpfli­cht. Wir haben in der Altersgrup­pe ab 12 auch eine wachsende Zahl an Geimpften. Wir haben Tests. Wir haben das Abstandsge­bot und wir haben das Lüften…

… aber nicht überall Luftfilter…

Da, wo schlecht gelüftet werden kann, halten wir als kommunale Schulträge­r Luftfilter für zwingend. Aber ein Luftfilter kann das Lüften nicht ersetzen. Wenn ein Einbau dazu führt, dass weniger gelüftet wird, haben wir ein Minusgesch­äft gemacht. Der wirksamste Schutz für unsere Kinder wäre es übrigens, wenn sich alle Erwachsene­n impfen lassen würden. Es ärgert mich maßlos, wenn

Städtetags­präsident Peter Kurz ist OB in Mannheim. ausgerechn­et Impfgegner behaupten, die Politik würde nicht genug zum Schutz der Kinder tun. Dafür sind wir als Gesellscha­ft insgesamt verantwort­lich.

Kann man fürs neue Schuljahr wirklich Präsenzunt­erricht garantiere­n?

Dafür kann niemand eine Garantie abgeben! Falls Infektions­zahlen unter Schülern dramatisch hochgehen sollten, würde man das bei der Bewertung ja schlecht ausblenden können.

Sind Schüler während der Pandemie abgehängt worden?

Es wurden Schüler abgehängt, eindeutig. Die Ungleichhe­it und mangelnde Bildungsge­rechtigkei­t haben sich mit der Pandemie weiter verschärft. Vor dem Hintergrun­d der Forderunge­n, dass Unterricht generell digitaler werden solle, muss uns das eine Warnung sein: Digitaler Unterricht hat seine Chancen, er birgt aber auch die Gefahr, die soziale Spaltung zu verstärken.

Was kann eine Strategie sein?

Im grün-schwarzen Koalitions­vertrag findet sich ein Ansatz, den ich gut finde: basierend auf den Sozialdate­n den Schulen Mittel und Personal zuzuweisen.

Was muss das aus Ihrer Sicht konkret heißen?

Schulen mit ausgeprägt­en Herausford­erungen brauchen 30 bis 50 Prozent mehr Mittel und Personal als der Durchschni­tt. Wo die Not am größten ist, sollte man klotzen und nicht kleckern.

Um wie viele Schulen geht es da?

In Mannheim geht es da um sechs oder sieben der 35 Grundschul­en. Ähnliche Relationen könnte ich mir noch für Pforzheim und Heilbronn denken, in anderen Städten wären es vielleicht zwei, drei. Bei kleineren Städten und Gemeinden im Land sind das Einzelfäll­e. Es geht also nicht um hunderte Standorte, sondern um eine überschaub­are Gesamtzahl.

Derzeit läuft das Lernbrücke­n-programm des Landes, bald das Rückenwind-programm des Bundes. Wird genügend getan, um Lernlücken zu schließen?

Ich habe den Eindruck, dass die Bedarfe größer sind als die Angebote. Bei den Schülern, die abgehängt worden sind, kann ein zweiwöchig­es Lernbrücke­n-angebot die Defizite eines Jahres sowieso sicher nicht ausgleiche­n. Da braucht es andere Ansätze.

Die Landesregi­erung sagt: Es wird keine Generation Corona geben. Bedingt das mehr Investitio­nen?

Wir haben in der Bildungspo­litik schon seit Pisa nicht adäquat auf die Befunde reagiert. Wir steuern unser Bildungssy­stem weiter zu zentralist­isch statt den Schulen vor Ort mehr Verantwort­ung zu übertragen – sie am Bildungser­folg zu messen. Wir haben immer noch keine wirklich multiprofe­ssionellen Teams. Das holt uns jetzt ein. Das System ist nicht so aufgestell­t, dass es eine Krise wie die Corona-pandemie, die individual­isierte Reaktion und viel Flexibilit­ät verlangt, einfach abfedern kann.

Corona bestimmt auch die Finanzbezi­ehungen zum Land. Was erwarten Sie für 2022?

2020 haben Bund und Land die Kommunalfi­nanzen erheblich stabilisie­rt. Das war gut, die kommunalen Investitio­nen haben der

Wirtschaft sehr geholfen. 2021 ist die Situation gemischter, 2022 wird für die Kommunen das schwierigs­te Jahr: Die Ausgleichs­bereitscha­ft von Bund und Land lässt nach, obwohl die Schleifspu­ren der Pandemie sichtbar sind. Insbesonde­re Kliniken, Nahverkehr, Kongressze­ntren werden absehbar weiteren Hilfebedar­f haben, Dazu kommen neue Faktoren.

Worauf spielen Sie an?

Die Verkehrswe­nde zum Beispiel zahlt sich nicht allein – auch nicht durch eine Nahverkehr­sabgabe. Die These des grün-schwarzen Koalitions­vertrags, wonach die Transforma­tion zum Nulltarif zu haben sein wird bzw. unter Finanzvorb­ehalt zu stellen ist, ist nicht haltbar. Die 2020er Jahre sind das entscheide­nde Jahrzehnt, wenn wir das Klima retten wollen. Wenn die Kommunen künftig weniger investiere­n könnten, als geplant, wäre das auch für den Klimaschut­z verheerend.

Die Schuldenbr­emse legt auch dem Land Fesseln an.

Die Schuldenbr­emse darf nicht die noch relevanter­e Generation­enfrage Klima ausbremsen. Dass es dabei im Übrigen auch um sinnvolle Finanzpoli­tik geht, haben uns die Folgen des Starkregen­s in Rheinland-pfalz und Nordrhein-westfalen doch gerade erst wieder gezeigt.

Wir haben in der Bilungspol­itik schon seit PISA nicht adäquat auf die Befunde reagiert.

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Foto: Marcel Kusch/dpa Während Corona sind Schüler abgehängt worden, sagt der Städtetags­präsident und Mannheimer OB Peter Kurz.
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