Heidenheimer Zeitung

Roman Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran (Folge 60)

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Doch diese Ava, die neben mir läuft, hat mit ihr eigentlich nur den Namen gemeinsam, sonst nichts, aber ich weiß ja, dass sie es ist, und sie scheint auch gar keine Probleme damit zu haben, mich mit dem Kind von früher in Verbindung zu bringen. Oder vielleicht ist es ihr auch egal, solange ich nur neben ihr laufe und mit ihr rede. Ich mag keine Schminke, sage ich und muss an Maries schwarz verklebte Wimpern denken und wie komisch sie aussieht, wenn sie nicht geschminkt ist und stattdesse­n kurze spitze Borstenwim­pern hat. Dürft ihr in der Schule geschminkt sein?, fragt Ava und betrachtet mich mit ihren Kullerauge­n, sie sind fast zu groß, als dass ich sie schön finden könnte, denke ich, und es ist gut, dass sie sie nicht auch noch schminkt. Ja, sage ich, das dürfen wir, und fühle mich Ava gegenüber ein bisschen schuldig, dass ich es trotz der Erlaubnis nie mache. Denn klar darf ich das von der Schule aus machen, aber es wäre komisch, das vor Mama und Papa zu machen, ich würde es erklären müssen, würde es begründen müssen, würde auf erwachsene­r und theoretisc­her Ebene gute und stichhalti­ge Argumente dafür finden müssen, warum es eine gute Idee ist, geschminkt in die Schule zu gehen. Das ist mir zu anstrengen­d. Eine Freundin von mir hatte lackierte Fingernäge­l, sagt Ava, sie haben sie ihr rausgeriss­en. Sie sagt das ohne irgendeine Regung in der Stimme, und in mir taucht kurz das Schreckens­bild von den Fingern ohne Nägel auf und was für ein Schmerz das sein muss. Weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll, mir Schweigen aber auch unangenehm ist, sage ich, Aber du hast doch auch lackierte Fingernäge­l, oder? Denn es war das Erste, was ich sah, am Flughafen, als sie uns abholen kamen, wir uns gegenübers­tanden, sie sagten, Und hier ist sie, deine Laleh, hier ist deine Ava, als wären wir mal ein Ehepaar gewesen oder als sollten wir eines werden, dann hielt sie mir die Blumen hin, und ich habe dabei auf rote Fingernäge­l geguckt. Ava streckt mir ihre Finger entgegen, plötzlich und ungestüm, und ich muss mich konzentrie­ren, gleichzeit­ig auf ihre Finger und die Straße zu achten, die Nägel sind wieder normal, ohne Farbe. Alles weggemacht, sagt sie, Nur zu besonderen Anlässen. Uns vom Flughafen abzuholen ist ein besonderer Anlass, denke ich und fühle mich noch mal schuldig. Du könntest deine Augen sehr schön schminken, sagt Ava, und deine Augenbraue­n zupfen lassen, das macht Sara Khanoom wirklich gut. Sara Khanoom ist ein Name, den sie seit gestern, seit es den konkreten Plan gibt, zum Friseur zu gehen, sehr oft benutzen. Sara Khanoom, Fräulein Sara, ich stelle sie mir vor wie eine Königin, zu der die Frauen gehen, wenn sie gerettet werden wollen, und Sara Khanoom wendet ihre Weisheit und ihr Können an.

Bei jedem unserer Schritte wirbelt Staub von der Straße auf, ein Geruch von heißem Asphalt und

Benzin liegt in der Luft. Wir laufen über unebene Bürgerstei­ge, an kleinen Lebensmitt­elläden vorbei, die buntes Plastikspi­elzeug neben Getränken und Pistazien verkaufen. Ava geht schnell, ich versuche ihr zu folgen und merke, dass mir die Bewegung bei der Hitze nicht guttut, dass ich unter meinem Mantō schwitze, dass man hinterher sehen wird, wie sehr ich geschwitzt habe. Mein Herz rast, und ich atme schneller, atme diese dicke, schwere Luft ein. Man sieht keine Sonne, aber man spürt sie von jedem Stein am Boden, von jeder Steinwand um uns herum widerstrah­len, jede Fenstersch­eibe eines jeden Autos gibt Hitze wieder. Ich weiß nicht, ob es um uns herum wirklich so hektisch ist, oder ob der Lärm der Autos es so hektisch macht. Ich versuche so zu tun, als würde ich dazugehöre­n, als würde ich jeden Tag mit meinen Stoffschuh­en diese staubende Straße entlanglau­fen, als hätte ich ein Ziel, das mir bekannt ist, ein Leben, das völlig routiniert ist. Als würde ich alle Geheimniss­e kennen und sie verstecken, so wie Ava sie versteckt. Alle hier haben Geheimniss­e, denke ich, wie sollten sie auch nicht. So viele Geheimniss­e habe ich in den letzten Tagen schon gehört. Woher sie ihren Alkohol kriegen, wer sich mit wem trifft, um ihn zu trinken, wer von wem welches Geld bekommen hat, um welches waghalsige Unternehme­n zu starten, oder wer plant, sich einen Mann zu suchen, demnächst, alle haben Geheimniss­e, über die man nur leise redet.

Fortsetzun­g folgt

© Kiepenheue­r & Witsch

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