Heidenheimer Zeitung

Der Alltag nach der Flut

Für die Kinder in den Überschwem­mungsgebie­ten gehen Kita und Schule weiter. Doch wie wirken sich ihre schrecklic­hen Erlebnisse aus?

- Von Annika Schmitz

Das Wasser kam bis auf den Dachboden, erzählt Helga Pollig. 20 Zentimeter hoch stand es selbst noch auf dem Speicher. Mittlerwei­le ist klar: Das Gebäude der Kindertage­sstätte Sankt Pius in Bad Neuenahr-ahrweiler – keine 200 Meter sind es bis zur Ahr – ist nicht mehr zu retten. Nun betreuen Kita-leiterin Pollig und ihr Team einen Teil der Kinder in einem Provisoriu­m: einem Gemeindeha­us im acht Kilometer entfernten Leimersdor­f.

Es ist ein wenig Normalität in einem Alltag, der von seinem gewohnten Lauf weit entfernt ist. Pollig spricht von Mitarbeite­nden, die selbst „in höchstem Maße betroffen“sind. Sie spricht von Eltern, die ihre Kinder morgens mit Tränen in den Augen vorbeibrin­gen. Sie spricht von den Kindern. „Die kommen mit teils ganz furchtbare­n Erfahrunge­n zu uns“, sagt sie.

Ihre Kollegen Sabine Sausen und Stefan Ibs nicken zustimmend. Sie leiten die Kindergärt­en Sankt Mauritius in Heimershei­m und Blandine-merten-haus in Ahrweiler. Auch ihre Einrichtun­gen

sind zerstört, ihre Erfahrunge­n ähnlich.

Da ist die Rede von dem dreijährig­en Jungen, der in der Flutnacht mit seiner Familie auf dem Dachboden ausharrte, Autos und Bäume im reißenden Strom vorbeischw­immen sah. In der Kita sitzt er an einem Tisch, fährt mit einem Spielzeuga­uto auf und ab und murmelt wieder und wieder vor sich hin: „Dann wir gleich alle tot. Dann wir gleich alle tot.“

Wenn Ibs an solche Szenen denkt, betont er die Grenzen seines Berufsfeld­s. Sie alle sind ausgebilde­te Pädagogen, aber keine Psychother­apeuten und Traumaexpe­rten.

Solche jedoch wird es künftig brauchen, auch in den Kitas. Aktuell ist daran nur bedingt zu denken. Abgesehen davon, dass solche Experten schon vor der Flut lange Warteliste­n hatten – zurzeit könne man den Kindern nicht noch weitere fremde Personen zumuten.

Besonders schlimm: Regen

Die Kita-leitungen machen alle die gleiche Erfahrung: Die Mädchen und Jungen haben ein besonders starkes Bedürfnis nach Nähe und Geborgenhe­it. Sie suchen Körperkont­akt, haben viele Ängste – vor der Trennung von den Eltern, von Geschwiste­rkindern. Manches Kind, das vor der Flut noch problemlos in der eigenen Gruppe blieb, weicht nicht mehr von der Seite von Bruder oder Schwester. Besonders schlimm: Regen. Dann brechen Ängste auf, sagen die Kita-leitungen. Es brauche einen viel kleineren Betreuungs­schlüssel, um all dem gerecht zu werden.

Von solchen Ängsten berichtet auch die Leiterin der katholisch­en Kita Sankt Petrus und Paulus in Swisttal-odendorf. Niemand wisse genau, was die Kinder erlebt haben, woran sie sich erinnern.

Aber durch ihr Verhalten signalisie­rten die Jungen und Mädchen, dass sie viel von dem Abend und der Nacht mitbekomme­n haben. Viele spielten die Flutnacht nach. „Die Kinder sind dann die Feuerwehr und kommen mit Booten oder Hubschraub­ern“, erzählt sie. „Zum Schluss sagen sie dann: So, jetzt seid ihr gerettet!“An diese Erfahrung der Rettung wollen die Pädagogen anknüpfen.

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