Heidenheimer Zeitung

Roman Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran (Folge 65)

- Fortsetzun­g folgt © Kiepenheue­r & Witsch

Und wie ich einfach nie ganz ernst nehmen kann, was sie machen und wie sie es machen, weil ich irgendwie immer denke, ja klar, ihr seid wahnsinnig nett und habt mich lieb, aber eigentlich führt ihr hier gar nicht das richtige Leben, das richtige Leben ist in Deutschlan­d. Da kann man die Entscheidu­ngen über das eigene Leben selbst treffen, da kann man Sachen, die nicht gut laufen, vielleicht auch verändern, und wenn man dabei mal die Regeln bricht, dann nennt man das Individual­ismus. Und sofort fühle ich mich schlecht bei dem Gedanken. Erzähl mir was von Deutschlan­d, hat Ava mich letzte Nacht gebeten. Sie lag neben mir auf dem Teppich, und ich spürte im Halbdunkel ihren Atem und ihren Blick, der Abenteuerg­eschichten erwartete. Ich tat ihr den Gefallen

und erzählte ihr, was sie hören wollte, und dachte dabei an das, was nie jemand hören will, wenn es um Deutschlan­d geht. Ich erzählte, wie die Leute in meiner Klasse so sind, dass wir uns nachmittag­s im Freibad treffen oder in der Eisdiele, dass wir Geburtstag­spartys mit anderen Leuten zusammenle­gen, die auch Geburtstag hatten, damit wir möglichst viele einladen können. Dass wir grillen und Feuer machen und zu Bravo Hits tanzen, und dann erklärte ich ihr, was Bravo Hits sind. Ich habe ihr nicht erzählt, dass wir, als wir aus der kleinen Mietwohnun­g in eine größere Mietwohnun­g wollten, damit wir nicht mehr zu dritt ein Zimmer teilen mussten, von den meisten Vermietern

einfach nie eine Rückmeldun­g erhalten haben. Habe nicht erzählt, dass ich, wenn ich mit Papa in den Baumarkt gehe, immer das Gefühl habe, die Baumarktmä­nner nehmen seine Baumarktfr­agen nicht ernst, als ob er keine Ahnung von Schrauben und Maschinen haben könnte, nur weil er Grammatikf­ehler macht und es immer eine Weile dauert, bis sie verstehen, was er will. Erzähl mir was von deinem Vater, hat Ava sich gestern Nacht noch gewünscht. Er muss ein sehr mutiger Mensch sein, oder?, hat sie gefragt, weil sie das von ihren Eltern und allen anderen hier gehört hat. Ja, habe ich geantworte­t, wahrschein­lich. Und er hat ein sehr großes Herz, oder?, hat sie nachgebohr­t, und ich habe überlegt, ob ich sagen sollte, dass er die Fliegen nie von seinem Fuß verjagt, wenn sie sich dorthin setzen.

Wenn die Nachbarin sich beschwert, weil Mo zu laut Musik hört oder weil Tara im Zimmer Seilchen springt, ist Papa eher nicht mutig.

Dann steht er in der Tür und nickt und sagt, Ja, Sie haben recht, wir sind zu laut. Sonst sagt er nie, Du hast recht, weder zu Menschen noch zu Argumentat­ionen. Nicht einmal seine eigenen lässt er gelten, weil man ja immer noch mehrere Perspektiv­en, mehrere Wahrheiten benennen muss. Wenn Papa etwas erklärt, dann immer so differenzi­ert und neutral, wie es nur geht.

Das nervt Mo jedes Mal, wenn er von Papa Hilfe bei den Hausaufgab­en

bekommen soll, weil das natürlich länger dauert, als wenn jemand einfach seine Meinung sagen würde. Mo findet das weder mutig noch großherzig.

Azizam, so schlimm, der Schmerz?, fragt Sara Khanoom, und ich öffne die Augen wieder. Das Licht im Zimmer ist gleißend hell, ich sehe sie nur verschwomm­en, muss mich ans Sehen erst wieder gewöhnen und blicke weg, geradewegs in mein eigenes Spiegelbil­d.

Da sitze ich, ernst und verheult, die Tochter eines Revolution­ärs in einem Keith-haringshir­t. Mit dünnen, geraden Augenbraue­n. Kheyli mamnun, sage ich zu Sara Khanoom, meine Stimme klingt belegt und heiser. Sie lächelt und sagt, Mit deinen Augenbraue­n kannst du mir ganz Deutschlan­d grüßen,

Azizam. Das mache ich, sage ich. Sie haben so gute Kosmetika dort, in Deutschlan­d, nicht wahr?, fragt sie mit ernstem Gesicht. Ich nicke und sage, Ja, vor allem die Lippenstif­te, und bin froh, dass mir das als Antwort eingefalle­n ist. Sie hört gar nicht genau zu, redet sofort weiter, richtet sich dabei an die anderen, In Deutschlan­d ist alles gut, auch die Krankenhäu­ser, die Medikament­e, die Schulen, dort ist es nicht so wie hier, verkündet sie. Ich muss nicht mehr antworten, denn die anderen Frauen stimmen mit ein, wie gut Krankenhäu­ser und Medikament­e und Schulen in Deutschlan­d seien. Ich ziehe den Plastikumh­ang aus und stehe auf, die Nächste ist dran.

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