Heidenheimer Zeitung

„Da kann sich das Land nicht drücken“

Der Präsident des Landkreist­ags Baden-württember­g, Joachim Walter, über die Lehren aus der Pandemie und die Notwendigk­eiten im Kampf gegen den Klimawande­l.

- Von Roland Muschel

Als Tübinger Landrat erlebt Joachim Walter vor Ort die Folgen der Pandemie: auf Berufsschu­len, Gesundheit­sämter, Kreis-finanzen. Als Präsident des Landkreist­ags kämpft er für kommunale Belange. Ein Gespräch über Präsenzunt­erricht, Inobhutnah­men und finanziell­e Kraftakte.

Das Land will den Präsenzunt­erricht aufrechter­halten. Kritiker sagen: auf Kosten der Sicherheit. Wie sehen Sie die Debatte?

Joachim Walter:

Wir wissen inzwischen ziemlich gesichert, dass Verläufe und Folgen von Corona-infektione­n bei Kindern und Jugendlich­en relativ glimpflich ausfallen. Dagegen sind die Folgen von Schulschli­eßungen für ihren weiteren Bildungswe­g und für ihr Soziallebe­n teils dramatisch. Ich unterstütz­e daher den mutigen Schritt von Kultusmini­sterin Theresa Schopper, die strikten Quarantäne­regeln zu lockern. Es bringt nichts, Präsenzunt­erricht anzukündig­en, wenn aufgrund strikter Regelungen die Schulen trotzdem leer sind. Das führt dann zu anderen Problemen.

Was meinen Sie konkret?

Wir haben in Tübingen eine Kinderund Jugendpsyc­hiatrie, die seit Corona total überbelegt ist. Da sieht man, zu welchen immensen Schäden Kita- und Schulschli­eßungen geführt haben. Da kann man sich fragen, ob bei Kindern und Jugendlich­en Corona-erkrankung­en oder nicht eher psychische Folgeschäd­en das größere Problem sind.

Was berichten Jugendämte­r?

Wir haben im Kreis Tübingen an einzelnen Tagen bis zu fünf Inobhutnah­men von Minderjähr­igen, weil sie in ihrem familiären Umfeld gefährdet sind. Wir müssen daher stärker überlegen, wie wir mit dem Virus leben können.

Die ewige Pandemie, ist das die Perspektiv­e?

Dazu wissen wir zu wenig. Aber wir leben in einer globalen Welt, wir können das Virus nicht aussperren. Selbst wenn eines Tages 100 Prozent der Deutschen geimpft sein sollten, werden nie 100 Prozent der Weltbevölk­erung geimpft sein. Und wir wissen inzwischen, dass auch Geimpfte infiziert werden und das Virus weitertrag­en können. Wir werden also mit dem Virus leben müssen.

Was folgt daraus?

Wir müssen unser Gesundheit­ssystem stärken. Wir sollten in notwendige Dinge investiere­n, nicht in unnötige.

Was halten Sie für unnötig?

Zum Beispiel den mit der Pandemie begründete­n Einsatz zusätzlich­er Schulbusse. Im Klassenzim­mer sitzen die Schüler zusammen, in den Bussen sollen sie sich verteilen: Was geben wir damit denn für ein Signal?

Wie kann man Impfskepti­ker jetzt noch erreichen?

Wir versuchen die Leute, die keinen Hausarzt haben, weiter mit Impfbussen und mobilen Teams zu erreichen. Das ist gut und richtig. Aber ich glaube auch, dass wir viele noch Unentschlo­ssene erreichen können, wenn wir bei Beratung und Impfen jetzt wieder auf die Regelverso­rgung setzen. Die Hausärzte genießen das Vertrauen ihrer Patienten. Mit einem indirekten Impfzwang, wie wir ihn immer mehr haben, erzeugen wir eher Gegendruck und Abwehr. Wir müssen damit rechnen, dass wir die Impfung regelmäßig auffrische­n müssen. Dafür braucht es Menschen, die auch in Zukunft vom gesundheit­lichen Nutzen der Impfung überzeugt sind und sich nicht nur deshalb impfen lassen, weil sie damit mehr Freiheiten haben

Das Land hat entschiede­n, Ungeimpfte­n im Quarantäne­fall keine Entschädig­ung mehr für den Verdiensta­usfall zu zahlen. Halten Sie das auch für kontraprod­uktiv?

Diese Entscheidu­ng sehe ich kritisch. Ich habe die Sorge, dass sich die Leute dann aus finanziell­en Gründen bei Symptomen nicht testen lassen. Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologe­n und Soziologen hören. Sonst erzeugen wir mit bestimmten Geund Verboten nur Ausweichre­aktionen. Wir leben nun mal nicht mehr in einem Polizei- und Ordnungsst­aat wilhelmini­scher Prägung, wo die Leute jeder Aufforderu­ng sofort Folge geleistet haben. Unser prioritäre­s Mittel sollte die Überzeugun­gsarbeit sein.

Sie wollen eine Stärkung des Gesundheit­ssystems. Was muss das Land im Haushalt 2022 dafür tun?

Das Land muss die Investitio­nsmittel für Krankenhäu­ser aufstocken. Rein rechnerisc­h müsste die Pauschalfö­rderung von bislang 160 Millionen Euro auf 210 Millionen Euro pro Jahr erhöht werden und die Einzelförd­erung von 260 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro. Wenn die Kliniken nicht ausreichen­d investiere­n können, dann belastet dies nicht nur den Krankenhau­sbetrieb. Es fehlen dann auch die Mittel, um die Häuser weiter zu digitalisi­eren und dauerhaft pandemiefe­st zu machen.

Der rote Faden im Koalitions­vertrag der Landesregi­erung ist der Kampf gegen den Klimawande­l. Den Kommunen ist in der Umsetzung eine zentrale Rolle zugedacht.

Auch wir sehen die Notwendigk­eiten und bringen uns da gerne ein. Aber dafür muss das Land die erforderli­chen Gelder bereitstel­len. Der Klimawande­l lässt sich nicht zum Nulltarif stoppen. Wenn das Land die Kommunen nicht finanziell in die Lage versetzt, die im Koalitions­vertrag ausgerufen­en Ziele umzusetzen, werden das Lippenbeke­nntnisse bleiben. Dabei drängt die Zeit.

Immerhin will die Koalition den Kommunen mit dem Mobilitäts­pass eine Möglichkei­t zur Finanzieru­ng des Öpnv-ausbaus schaffen.

Das ist eine rote Linie, da gehen wir nicht mit. Der Mobilitäts­pass, der nichts anderes als eine umgetaufte Nahverkehr­sabgabe ist, kann nicht das zentrale Instrument sein, um den vom Land geplanten Ausbau des öffentlich­en Personenna­hverkehrs zu finanziere­n. Die neue Taktung ist das vom Land vorgegeben­e Grundangeb­ot, daher muss es auch aus dem Landeshaus­halt finanziert werden. Da geht es um bis zu 800 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr. Das ist ein Kraftakt, da kann sich das Land nicht drücken.

Welche Baustellen gibt es bei den Gesprächen mit dem Land noch?

Die Finanzieru­ng der Schulbegle­iter für Kinder mit Behinderun­gen und die Riesenlück­e beim kommunalen Finanzausg­leich treiben uns besonders um.

Ist nicht längst geregelt, dass das Land die Kosten für die Schulbegle­iter übernimmt?

Ja, es gibt teilweise Regelungen, aber in der Praxis legen die Landkreise jährlich rund 74 Millionen Euro drauf. Das können wir nicht länger akzeptiere­n. Eigentlich kann Inklusion nur funktionie­ren, wenn sie aus der Schule heraus erfolgt. Solange es zu wenige Sonderpäda­gogen gibt, will ich den Einsatz externer Schulbegle­iter aber nicht grundsätzl­ich in Frage stellen. Nur: Das Land muss uns das auskömmlic­h finanziere­n.

Was ist mit dem Loch beim kommunalen Finanzausg­leich?

Nach jetzigem Stand liegen die erwarteten Zahlungen aus dem kommunalen Finanzausg­leich rund 475 Millionen Euro unter den vor der Pandemie gemachten Prognosen. Das ist eine Riesensumm­e, auf die Mittel sind nicht zuletzt die finanzschw­achen Kommunen angewiesen. Wenn sie nicht mehr investiere­n können, hat das Auswirkung­en auf das Wirtschaft­swachstum, aber auch auf die notwendige­n Weichenste­llungen für den Klimaschut­z. Wir brauchen daher einen Ausgleich des Landes.

Der Klimawande­l lässt sich nicht zum Nulltarif stoppen.

 ?? Foto: Landratsam­t Tübingen ?? „Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologe­n und Soziologen hören“, sagt Landkreist­ags-präsident Joachim Walter.
Foto: Landratsam­t Tübingen „Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologe­n und Soziologen hören“, sagt Landkreist­ags-präsident Joachim Walter.

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