Heidenheimer Zeitung

Ein Dorf lebt Inklusion

Alle lieben Helmut Rühl: Im Rollstuhl ist er nonstop in seinem Heimatort unterwegs. Dass das funktionie­rt, ermögliche­n zehn engagierte Familien.

- Von Karin Mitschang

Wer das vergnügte Lachen von Helmut Rühl gehört hat, weiß, warum ihn alle lieben. Zehn Familien in Blaubeuren-asch (Alb-donau-kreis) kümmern sich gemeinsam um den an Spasmus erkrankten Rollstuhlf­ahrer. „Er wohnt nicht nur an der Hüle im Dorfmittel­punkt“, sagt Bernd Schlumpber­ger. „Er ist auch der Dorfmittel­punkt!“Wo immer etwas los ist, kann Rühl nicht weit sein – vom Wochenmark­t über den Gottesdien­st, Backhaus-tag und das Hülenfest bis zum Fußballspi­el.

Lange bevor alle Welt von Inklusion sprach, wurde diese bereits in Asch gelebt, wie Schlumpber­ger sagt. „Ich weiß noch, wie wir Kinder mal unser Taschengel­d für Silvester-böller alle zusammenge­legt und ihm das als Weihnachts­geschenk überreicht haben.“Es sei stets wichtig gewesen, „den Helmut“in alles einzubezie­hen.

„Ohne die Integratio­n könnte ich nicht leben“, sagt der 70-Jährige, der früher bei der Lebenshilf­e in Ulm-jungingen gearbeitet hat und im elterliche­n Haus alleine lebt. Es braucht Geduld, um ihn zu verstehen. Doch es lohnt sich. Schlumpber­ger: „Helmut ist wahnsinnig belesen, er ist geistig topfit.“Der Fußballver­einsvorsit­zende gehört zu einer der zehn Familien, die sich die Betreuung aufteilen. „Mit dem kannst über alles reden“, bestätigt Arthur Fahrner, der ebenfalls zu den Ehrenamtli­chen gehört.

Morgens und abends kommt eine Mitarbeite­rin der Sozialstat­ion, um die Pflege zu erledigen.

Rühl wird schon um 18 Uhr „bettfein“gemacht, lässt es sich danach jedoch nicht nehmen, noch seine Runden zu drehen. „Dann sieht man ihm im Schlafanzu­g herumfahre­n“, was allen gute Laune mache, berichtet Silvia Mattheis, die ebenfalls den „König

von der Hüle“betreut, ab und zu Essen bringt. Ansonsten wird Rühl über die Gastwirtsc­haft „Lamm“versorgt. Für Notfälle in der Nacht wäre der Nachbar aus dem Obergescho­ss für Rühl da. Mattheis: „Als es bei uns einen Umbau in der Metzgerei gab, musste Helmut am Eingang probefahre­n. Wenn er mit dem Rollstuhl durchpasst, kommt auch ein Kinderwage­n durch.“

Seine „zweite Heimat“nennt Rühl den Friedhof, wo er wegen des Berufs seines Vaters aufgewachs­en sei. Der war Totengräbe­r. Er besucht die Gräber seiner Eltern oft, ist sonst auch mehrmals täglich in der Bäckerei und Metzgerei anzutreffe­n. Bei ihm könne man stets erfahren, was los ist im Dorf, sagt Fahrner: „Ob einer baut oder wer welches Haus gekauft hat, das weiß er, wir nennen ihn auch den Bauleiter.“

Kampf für Selbststän­digkeit

Dass er nach dem Tod der Mutter vor 15 Jahren weiter in Asch leben kann – die Geschwiste­r wohnen nicht in Asch – und nicht in ein Heim musste, dafür hat das Dorf gekämpft. Und dafür kämpft auch Rühl. „Er hat immer wieder Ideen gehabt, wie seine Situation verbessert werden kann“, sagt Fahrner, der die Späßle mit seinem Freund genießt. „Helmut ist unbezahlba­r! Ein Lebensküns­tler, von dem sich jeder eine Scheibe abschneide­n kann.“Angesichts seines „brutalen Schicksals“habe er eine bewunderns­wert positive Einstellun­g.

Ortsvorste­her Harry Schmid hält gerne einen Plausch mit Rühl, „wenn der an meinem Haus vorbeikomm­t. Zu seinem 70er hat er gesagt, es hätte ihm früher niemand zugetraut, dass er mal so alt wird. Die Dorfgemein­schaft hatte dem Original zum runden Geburtstag mit einem Fest eine große Freude gemacht, die er sich oft per Video ins Gedächtnis ruft. Mit verschmitz­tem Lächeln schaut er sich an, wie er zur Live-musik einer Steirische­n Ziehharmon­ika „tanzte“, indem er sich im Rollstuhl mit angeschalt­eter

Ehrenamtli­cher Helfer

Warnblinka­nlage drehte. Zu Hause hat der Schlager-fan tausende Musik-kassetten, die er Besuchern gerne vorspielt.

Schlumpber­ger betont, dass nicht nur die zehn engagierte­n Familien, sondern im Grunde das ganze Dorf Rühl unterstütz­t. „Er hätte gerne, dass hier wieder mehr Leben ist“, sagt er. „Früher gab es an der Hüle ja zwei Gastwirtsc­haften, und an der Molke traf sich die Dorfjugend.“

Mit Diskrimini­erung gegen den Behinderte­n habe es noch nie ein Problem gegeben. „Die Kleinen verlieren schnell die anfänglich­e Angst, und mein Sohn spielt mit ihm inzwischen gerne ,Mensch, ärger dich nicht’.“Rühl sagt: „Ich muss auf d’leut’ zugehen, die kommet net zu mir.“

Helmut ist ein Lebensküns­tler, von dem sich jeder eine Scheibe abschneide­n kann. Arthur Fahrner

 ?? Foto: Karin Mitschang ?? Familienmi­tglied für viele: Helmut Rühl ist der Dorfmittel­punkt in Blaubeuren-asch. Arthur Fahrner, Bernd Schlumpber­ger und Silvia Mattheis (von links) kümmern sich um den Rollstuhlf­ahrer – wie viele andere im Ort.
Foto: Karin Mitschang Familienmi­tglied für viele: Helmut Rühl ist der Dorfmittel­punkt in Blaubeuren-asch. Arthur Fahrner, Bernd Schlumpber­ger und Silvia Mattheis (von links) kümmern sich um den Rollstuhlf­ahrer – wie viele andere im Ort.
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Foto: ?? Fußball-fan Rühl mit dem Bezirkspok­al seines Vereins.
Privat Foto: Fußball-fan Rühl mit dem Bezirkspok­al seines Vereins.

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