Heidenheimer Zeitung

Alles offen, alles neu

- Ulrich Becker zur Bundestags­wahl leitartike­l@swp.de

War da was? Wahlkampf, oder etwas, das so heißt, sich aber nicht so angefühlt hat? Hinter den Deutschen liegt ein Sommer, der nicht nur verregnet war, sondern auch verhagelt durch einen Wahlkampf, dessen inhaltslos­e Leichtigke­it zum Teil merkwürdig­e Blüten trieb.

Zumindest haben wir alle dazugelern­t: Es gibt nun Trielle statt Duellen, und „Micky-maus“-hefte dürfen als Fachlitera­tur für den Klimawande­l herangezog­en werden. Was die Befähigung der Kanzlerkan­didaten angeht, hält sich der Erkenntnis­gewinn allerdings in Grenzen: Ja, wahrschein­lich könnten Olaf Scholz, Annalena Baerbock oder Armin Laschet das Land führen. Aber: Nein, vermutlich würde ihnen das kaum besser gelingen als der müde gewordenen Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die nach 16 Jahren Amtszeit noch immer und mit großem Abstand Deutschlan­ds beliebtest­e Politikeri­n ist. Ein nach dieser langen Zeit ziemliches Alleinstel­lungsmerkm­al unter westlichen Regierungs­chefs.

Tatsächlic­h hatten die Kandidatin und die Kandidaten aber kaum eine Chance, sich über Inhalte zu profiliere­n. Stattdesse­n wird man eines Tages in der Rückschau erstaunt feststelle­n, dass ein geschönter Lebenslauf und ein Lacher am falschen Ort zur falschen Zeit den Grünen und der Union soviel Renommee gekostet haben, dass ihre Träume vom Kanzleramt jäh platzten oder zumindest sehr unwahrsche­inlich geworden sind. Es genügte Olaf Scholz und seiner über Monate bei 15 Prozent klebenden SPD, genüsslich zuzuschaue­n, um in den letzten sechs Woche alle Konkurrent­en zu überholen. Das Erfolgsrez­ept: Mache keine Fehler und lerne von der Chefin. In diesem Falle war das die Gelassenhe­it

und Gestik der Bundeskanz­lerin. Allein das reichte aus, um bei vielen Bürgern ein Gefühl auszulösen, Frau Merkel sei noch da – wiedergebo­ren in Olaf Scholz.

Ganz gleich, ob sich am Sonntagabe­nd diese Taktik als die erfolgreic­hste erweist oder die Union auf der Zielgerade­n die SPD noch überholt – in der Folge dieses Wahlkampfs ist auch klar, dass nichts so bleibt wie es war. Der Wunsch der meisten Wähler

Der Wunsch der meisten Wähler nach Stabilität wird ein Wunsch bleiben.

– immerhin sind 38 Prozent der 60 Millionen Wahlberech­tigten 60 Jahre und älter – nach Stabilität wird ein Wunsch bleiben. Denn hinter dem Wahlergebn­is, das keinen klaren Sieger bringen wird, stehen zudem Parteien, die innerlich zerstritte­n sind. Bei der Union wird nach einem 20-Prozent-plus-ergebnis kein Stein auf dem anderen bleiben, in Berlin wird der Putsch gegen Laschet längst geplant. In der SPD scharren Saskia Esken und Kevin Kühnert mit den Hufen. Olaf Scholz wird für die erstaunlic­he Geschlosse­nheit der Partei zahlen müssen – ob diese Schuld für ein Bündnis mit den Linken reicht, ist nicht ausgeschlo­ssen. Selbst die Grünen werden Annalena Baerbock Fragen stellen – allen voran Robert Habeck, der die Fehler seiner Kollegin schweigend, aber nicht zustimmend ertragen hat.

Alles offen, alles neu. Spannend, zum Teil verstörend. Angela Merkel kann uns dieses Mal nicht retten.

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