Heidenheimer Zeitung

Schluss mit dem Kulturkamp­f!

Über kaum etwas wird so hitzig gestritten wie das Thema Diskrimini­erung. Der Weg zu Chancengle­ichheit beginnt im Kopf. Dabei wäre es allerdings hilfreich, die Moralkeule zu Hause zu lassen und stattdesse­n konkrete Ungerechti­gkeiten anzugehen.

- Von Igor Steinle

Ein Thema wurde im Bundestags­wahlkampf so gut wie ausgespart: die sogenannte Identitäts­politik. Dabei hat es kaum eine Sache in den vergangene­n Jahren so zuverlässi­g geschafft, die Menschen in Wallung zu bringen wie die Debatte über Genderspra­che, Quoten und Zigeunerso­ße. Dürfen Kinder sich noch als Indianer verkleiden? Darf man jemanden mit Migrations­hintergrun­d noch fragen, wo sie oder er herkommt? Und ist man automatisc­h ein Frauenfein­d, wenn man gegen die Genderspra­che ist? Sobald diese Reizthemen auf der Tagesordnu­ng stehen, ist Streit programmie­rt, egal ob in Freundeskr­eis, Familie oder Politik.

Doch worum geht es genau? Unter Identitäts­politik werden politische Maßnahmen zusammenge­fasst, bei denen die Bedürfniss­e einer bestimmten Gruppe von Menschen im Mittelpunk­t stehen wie etwa Quotenrege­lungen in Berufen, Sprachvorg­aben oder auch konservati­ve Ideen wie die Mütterrent­e. In der Regel handelt es sich bei den betroffene­n Gruppen um Personen mit Migrations­hintergrun­d, Frauen und Transperso­nen. Oder anders gesagt: Menschen mit Diskrimini­erungserfa­hrung.

Dass solche Erfahrunge­n noch immer real sind, ist Fakt. Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe oder von der gesellscha­ftlichen Norm abweichend­er Sexualität sind im Alltag oft benachteil­igt, bei der Job- oder Wohnungssu­che etwa. Und für Frauen ist die Karrierele­iter noch immer steiler als für Männer. Genauso ist allerdings richtig, dass sich die Teilhabech­ancen von Frauen und Lebensverh­ältnisse von Menschen mit internatio­naler Geschichte deutlich verbessert haben. Wie also kann es sein, dass dennoch viel mehr über Diskrimini­erung diskutiert wird als früher?

Zwei Konzepte konkurrier­en

Der Soziologe Aladin El-mafaalani ist der Meinung, nicht obwohl, sondern weil sich die Situation verbessert habe, wird stärker gegen Missstände aufbegehrt. Erst wenn Benachteil­igte ihre Stimme einbringen können, komme das Thema überhaupt auf die Agenda. In der Soziologie spricht man vom „Tocquevill­e-paradoxon“, wonach mit dem Abbau von Ungerechti­gkeit gleichzeit­ig die Sensibilit­ät gegenüber verbleiben­der Ungleichhe­it erhöht wird. Der französisc­he Historiker Alexis de Tocquevill­e hatte schon im 19. Jahrhunder­t festgestel­lt, dass die Angleichun­g sozialer Lebenslage­n nicht zwingend zu einer Befriedung der Bevölkerun­g, sondern zu noch mehr Frustratio­n und Protest führen kann.

Das allein erklärt allerdings nicht die extrem polarisier­te Debatte. Um sie zu verstehen, muss man einen Blick auf die Ursprünge werfen. Es geht nämlich nicht primär darum, für oder gegen Antirassis­mus zu sein. Vielmehr stehen sich heute grob gesprochen zwei Konzepte von Anti-diskrimini­erungspoli­tik konkurrier­end, ja geradezu feindlich gegenüber.

Auf der einen Seite der universali­stische Ansatz, wonach alle Menschen gleich sind und gleich behandelt werden sollten. Die Erfahrunge­n des Nazi-rassenterr­ors sorgten dafür, dass im Nachkriegs­europa vor allem dieser liberale Ansatz dominierte. In einer Rede brachte es der erste Präsident der jungen Bundesrepu­blik, Theodor Heuss, 1949 auf den Punkt: „Wir dürfen nicht immer sagen: Er ist ein Franzose – also; er ist ein Engländer – also; er ist ein Deutscher – also; er ist ein Jude – also. Nein, so geht es nicht. Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie Bewertung des Menschentu­ms zurückgewi­nnen.“

Dem gegenüber steht der identitäre Ansatz, der seinen Ursprung in Us-amerikanis­chen Universitä­ten hat und eine besondere Behandlung benachteil­igter Menschen verlangt. Diese Denkweise entwickelt­e sich aus der Erfahrung der Rassentren­nung und ignoriert kulturelle Unterschie­de nicht, sondern erkennt sie an und respektier­t sie. Ein multikultu­relles und gleichbere­chtigtes Nebeneinan­der wird eingeforde­rt.

Seit geraumer Zeit wird die amerikanis­che Definition auch in Europa übernommen, was bedenklich ist. Die Debatte dreht sich längst nicht mehr um die sogenannte deutsche Leitkultur, die die Gemüter noch in den 1990er- und 2000er-jahren erregte. Inzwischen stehen vor allem Sprechvorg­aben im Zentrum der Auseinande­rsetzung, die verhindern sollen, dass bestimmte Gruppen sich diskrimini­ert fühlen, wie etwa die nachvollzi­ehbare Abschaffun­g der Bezeichnun­g „Zigeunerso­ße“.

Weil die Auseinande­rsetzung aber vor allem in den sozialen Medien ausgetrage­n wird, haben, wie es dort leider üblich ist, Vertreter extremer Positionen Oberwasser. Da wird dann schon mal gefordert, Statuen von Immanuel Kant vom Sockel zu reißen, weil der Philosoph nicht unbedingt als lupenreine­r Antirassis­t durchgeht. Nicht selten wirken die „Gerechtigk­eitskriege­r“dabei wie „übereifrig­e Akademiker, die ‚Political Correctnes­s‘ wie eine preußische Pickelhaub­e tragen“, wie der Publizist Jörg Scheller treffend bemerkte. Sie kultiviere­n eine Freund-feind-denke, nach der jeder, der ihre Forderunge­n nicht unterstütz­t, als „alter weißer Mann“verspottet wird, der lediglich seine Privilegie­n verteidige­n will.

Wahr ist zwar auch, dass Gegner von Identitäts­politik gerne überdrehte Beispiele nehmen, um das Anliegen der Gleichbere­chtigung an sich zu diskrediti­eren. Dennoch haben inzwischen auch destruktiv­e Ideen Einzug in den gesellscha­ftlichen Mainstream gehalten. So etwa das Konzept „kulturelle­r Aneignung“, wonach niemand Merkmale anderer Kulturen „an sich reißen“dürfe. Wer als Weißer afrikanisc­he Dreadlocks trägt, stelle sich über die Afrikaner und beute ihre Kultur aus, so der Vorwurf. Eine Logik, nach der Europäer weder Yoga praktizier­en noch asiatisch kochen oder Rapmusik machen dürften.

Das alles macht Identitäts­politik für die extreme Rechte zum gefundenen Fressen, hat sie das Konzept ja erfunden. Sie kann ihr Glück kaum fassen, ihre Idee einer statischen Kultur, die vor äußeren Einflüssen geschützt werden muss, nun ausgerechn­et von linker Seite bestätigt zu bekommen. Rechtspopu­listen können jetzt mit Quellenver­weis behaupten, dass Minderheit­en ihnen vorschreib­en wollen, wie sie zu sprechen haben, und können sich auch noch als Hüter der Freiheitsr­echte verkaufen.

Anstatt aber diese eigentlich­en Gegner der freiheitli­ch-demokratis­chen Ordnung zu bekämpfen, schießen viele Eiferer sich lieber auf Menschen ein, die „Indianer“sagen, oder sich, wie die Kabarettis­ten Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr, satirisch-kritisch mit linkem Zeitgeist auseinande­rsetzen – Forderunge­n nach Berufsverb­oten inklusive. Beispiele solcher „Cancel Culture“haben längst Spuren in der Gesellscha­ft hinterlass­en.

Zustände wie in den USA, wo in Universitä­ten und Redaktione­n ein Klima der Angst herrscht, etwas zu sagen, das jemand als rassistisc­h empfinden könnte, gibt es hierzuland­e nicht. Doch die Tendenz weist bedenklich in die Richtung. Erstmals seit Jahrzehnte­n glaubt laut einer regelmäßig durchgefüh­rten Allensbach-umfrage nicht mal mehr die Hälfte der Deutschen, die eigene Meinung frei äußern zu können. Ob es ums „Gendern“geht oder Fälle, bei denen Personen wegen Äußerungen, die als diskrimini­erend gewertet wurden, zurücktret­en mussten: Die Angst vor gesellscha­ftlichen Sanktionen bei Verstößen gegen „Political Correctnes­s“ist groß.

Forscher der Uni Münster stellten zudem fest, dass es in Deutschlan­d und anderen europäisch­en Ländern inzwischen gesellscha­ftliche Lager gibt, die sich schlicht nichts mehr zu sagen haben. Wegen ihrer Praxis, Äußerungen, die ihrer Ideologie widersprec­hen, als „außerhalb des Sagbaren“zu brandmarke­n, geben die Studienaut­oren auch der Identitäts­linken Schuld daran. Wohin das führen kann, lässt sich in den USA beobachten, wo nicht wenige Historiker die Aufgabe des universali­stischen Schmelztie­gel-gedankens zugunsten der identitäts­politische­n Agenda dafür verantwort­lich machten, dass das Land zwischenze­itlich nahe dem Bürgerkrie­g gesehen wurde.

Will man die Spaltung nicht weiter fördern, muss der Kulturkamp­f überwunden werden. Schon heute hat jeder vierte Deutsche eine internatio­nale Geschichte, Tendenz steigend. Damit die Konflikte, die damit einhergehe­n, nicht Überhand nehmen, ist es wichtig, das Verbindend­e und nicht das Trennende zwischen den Menschen zu betonen. Die identitäts­politische Debatte kann hier hilfreich sein, in der Mehrheitsg­esellschaf­t Sensibilit­ät für Diskrimini­erung zu schärfen und ein Umdenken anzustoßen. Auf manche Wörter zu verzichten, gebietet schlicht der Anstand. Und der gesellscha­ftliche Friede wird auf Dauer nur dann gewahrt, wenn die Karrierele­iter für alle ähnlich steil oder flach ist.

Nachhaltig wird das Ziel der Gleichbere­chtigung jedoch nur erreicht, wenn nach dem universali­stischen Prinzip strukturel­le Ungerechti­gkeiten angegangen werden: im Bildungssy­stem etwa, in dem Erfolg noch immer von Postleitza­hl und Elternhaus abhängt. Oder mit Blick auf zu geringe Entlohnung in sozialen Berufen, in denen vor allem Frauen tätig sind. Ein Fehler wäre es jedoch, Benachteil­igungen mit einer Brechstang­e aus Sprachvorg­aben und Moralkeule­n zu begegnen. Diese erzeugen so viel Widerstand, dass sie der Sache mehr schaden, als dass sie helfen.

Gesellscha­ftlicher Friede wird auf Dauer nur gewahrt, wenn die Karrierele­iter für alle ähnlich steil oder flach ist.

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 ?? Foto: Xander Heinl/photothek ?? Igor Steinle hat Literatur, Politik und Geschichte studiert und ist seit 2017 Redakteur in unserem Berliner Büro.
Foto: Xander Heinl/photothek Igor Steinle hat Literatur, Politik und Geschichte studiert und ist seit 2017 Redakteur in unserem Berliner Büro.

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