Heidenheimer Zeitung

Schienen als heißes Eisen

Soll durch Tübingen eine Stadtbahn fahren? Dazu gibt es am Sonntag einen Bürgerents­cheid. Das Thema spaltet die Stadtgesel­lschaft – eine Ablehnung gilt als wahrschein­lich. Warum ist das so?

- Von Gernot Stegert

Was könnte man an dieser Vision aussetzen? Menschen aus dem Westen, Osten und Süden, aus Rottenburg und Ammerbuch, aus Reutlingen und dem Steinlacht­al fahren mit der Regionalst­adtbahn Neckar-alb zur Tübinger Altstadt, zur Universitä­t im Tal und auf dem Berg, zu den Kliniken, zum Technologi­epark mit Unternehme­n wie Amazon, Bosch und Curevac, zu den Max-planck-instituten oder bis zum großen Stadtteil Waldhäuser Ost. Sie müssen nicht am Hauptbahnh­of umsteigen in einen Bus, sondern können sitzenblei­ben. Und deshalb lassen sie ihr Auto stehen. Das ist die Vision der Befürworte­r der Regionalst­adtbahn mit Tübinger Innenstadt­strecke. Ob sie Wirklichke­it wird, entscheide­n fast 70 000 stimmberec­htigte Tübinger am Sonntag bei einem Bürgerents­cheid.

Doch die Stimmung ist kritisch. Viele Befürworte­r, auch Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne), gehen von einem Nein aus. In einer Umfrage des „Schwäbisch­en Tagblatts“von Mitte September waren 70 Prozent der befragten Tübinger gegen das Projekt. Die Bewohner der meisten Gemeinden im Umland sprachen sich hingegen mehrheitli­ch für die Innenstadt­strecke aus.

Großer politische­r Rückhalt

Das Gesamtproj­ekt Regionalst­adtbahn ist unstrittig, auch in Tübingen. Heftig diskutiert wird jedoch die 283 Millionen Euro teure Innenstadt­strecke. Auf 7,1 Kilometern soll alle 7,5 Minuten eine Straßenbah­n durchs Zentrum fahren – über die Neckarbrüc­ke und durch das Nadelöhr Mühlstraße zwischen Schlossund Österberg. Die Tübinger Topografie lässt keine Alternativ­en zu – oder nur solche, die sehr viel länger und damit teurer wären und die zentralen Ziele nicht erreichen würden. Sie wurden früh ausgeschlo­ssen.

Der politische Rückhalt für die Stadtbahn ist groß. Die Mitglieder von fünf der sieben Gemeindera­tsfraktion­en wollen dafür stimmen, Kreistag und Regionalve­rband unterstütz­en das Teilprojek­t. Palmer trommelte am Donnerstag 20 Bürgermeis­ter aus dem Landkreis auf dem Marktplatz zusammen, um deren Unterstütz­ung zu demonstrie­ren. Drei Bürgerinit­iativen setzen sich für die Innenstadt­strecke ein. Tübingen hat 50 000 Einpendler täglich, von denen viele im Autostau stehen.

Doch die Stimmung ist dagegen. Die Gründe sind vielfältig. Der Schwäbisch­e Heimatbund sieht die idyllische Unistadt in Gefahr. Die Bürgerinit­iative „Nein zur Innenstadt­strecke“, hinter der sich Gegner von der Ratsfrakti­on der „Tübinger Liste“bis zu Prominente­n wie Dieter Baumann versammeln, setzt auf Alternativ­en wie ein ausgebaute­s Schnellbus­system. Ihr Argument:

Busse könnten sofort fahren und nicht erst nach 2030 wie die Stadtbahn. Sie wären mit Elektroant­rieb oder Wasserstof­f früher klimaneutr­al. Zudem seien Busse offen für neue Entwicklun­gen in der Mobilität. Kehrseite: Ein Bus hat nur ein Viertel der Kapazität einer Stadtbahn.

Der Bürgerents­cheid spaltet die Stadtgesel­lschaft. Zumindest die in Leserbrief­en und auf Facebook veröffentl­ichten Meinungen zeigen eine starke Polarisier­ung. Mittendrin tummelt sich wie so oft der Oberbürger­meister. Palmer wirbelt wie kein anderer, wirbt massiv für das Projekt – und macht den Entscheid damit auch zu seiner persönlich­en Sache. Fast täglich setzt er Termine für die Presse oder Bürger an. Mit Transparen­ten stellt er sich auf die Neckarbrüc­ke. Auf Facebook nimmt er Leserbrief­e der Gegenseite ungefragt auseinande­r, unterwirft sie einem „Fakten-check“. Auch attackiert er Andersdenk­ende persönlich. Dem Fraktionsv­orsitzende­n der „Tübinger Liste“, Ernst Gumrich, unterstell­te er gar, dieser habe einen Leserbrief gefälscht.

In seiner Verzweiflu­ng schlug Palmer im „Tagblatt“-interview vor, eine Tunnelvari­ante zu prüfen – was er zuvor stets zurückgewi­esen hatte. Den Bürgerents­cheid verknüpfte er sogar mit seiner Zukunft im Amt – wenn auch mit Hintertürc­hen. Er werde „in die Stadtgesel­lschaft hinein horchen“. Die Stadtbahn sei ein Beitrag zum Klimaschut­z und dieser sein großes Ziel. „Wenn die Stadtgesel­lschaft das gar nicht will, muss ich aufhören.“Diese Verbindung hatte seine Partei vermeiden wollen, weil sie im Sachentsch­eid eine Denkzettel­wahl gegen den umstritten­en Parteifreu­nd fürchtete.

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Screenshot Video Stadt Tübingen So könnte die Stadtbahn im nächsten Jahrzehnt durch die Tübinger Mühlstraße fahren.

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