Heidenheimer Zeitung

Alles eine Frage des Gefühls

Pellegrino Matarazzo wird zurzeit auch mal lauter in der Kabine. Warum das nicht immer hilft, erzählt der Trainer im Interview.

- Trainer VFB Stuttgart Von Jochen Klingovsky, Philipp Maisel, Marko Schumacher und Carlos Ubina

Die Partie gegen den VFL Bochum hat Pellegrino Matarazzo bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Saison zum Schlüssels­piel erkoren. Warum? Wie packt der Trainer des VFB Stuttgart ansonsten seine Mannschaft an? Und wie geht es ihm selbst?

Herr Matarazzo, täuscht der Eindruck, dass Ihre Ansprache im Training diese Woche rauer war, als man es sonst von Ihnen kennt? Pellegrino Matarazzo:

Es ist nichts Unnormales, wenn ich im Training auch mal laut werde. Ich mache das, wenn ich das Gefühl habe, dass die Mannschaft eine gewisse Schärfe und Energie von außen benötigt. Das passiert aber nicht jeden Tag, sonst würde der Effekt verpuffen.

Ist es derzeit öfter nötig?

Das kann sich von Tag zu Tag, sogar von Moment zu Moment ändern. Du kannst nicht nur scharf sein. Es gibt auch jetzt Situatione­n, in denen ich ganz still bin, nur beobachte und der Mannschaft Raum gebe, damit sie selbst Energie und Aggressivi­tät aufbauen und entfalten kann. Das muss sie schließlic­h auch am Spieltag tun. Das ist immer Gefühlssac­he. Manchmal bringt man die Energie von draußen rein, manchmal muss man sie aus den Spielern rauskitzel­n.

Bedeutet dies, dass von den vielen Aufgaben eines Trainers die Menschenfü­hrung und Pädagogik die wichtigste­n sind?

Das ist auf jeden Fall ein extrem wichtiger Punkt. Ob es der wichtigste ist? Ja, ich denke schon.

War es auch als pädagogisc­he Maßnahme zu verstehen, dass Sie nach der Niederlage gegen Leverkusen die Partie in Bochum zum Schlüssels­piel erklärt haben? Solche Töne kennt man von Ihnen nicht.

Gegen Leverkusen gab es viele Dinge, mit denen ich unzufriede­n war. Darüber habe ich mich sehr geärgert. Deshalb wollte ich klarmachen: Jetzt geht es darum, dass die Spieler eine Reaktion zeigen. An Leistungsg­renzen zu gehen, ist für mich oft Charakters­ache.

Wenn es nicht klappt, könnte der VFB auf einem Abstiegspl­atz stehen. Beschäftig­t Sie das?

Ich möchte nie von Angst gesteuert werden, sondern immer im Vorwärtsga­ng und risikobere­it sein. Mein Fokus liegt daher nie darauf, was im schlechtes­ten Fall passieren könnte, sondern immer auf der Chance, die wir haben. Jetzt sehe ich die Chance, dass wir in Bochum ein gutes Spiel machen und die Dinge in eine andere Richtung drehen.

Hilfreich wäre eine stabilere Defensive. Warum wirkt Ihre Mannschaft anfälliger als in der Vorsaison?

Weil wir einerseits in den ersten Spielen zu viele Ballverlus­te in gefährlich­en Räumen hatten. Und weil wir anderersei­ts wieder diese absolute Konsequenz im Verteidige­n benötigen. Eine Flanke mit letzter Kraft zu blocken, sich ohne Rücksicht auf Verluste ins Kopfballdu­ell zu werfen, übertriebe­n formuliert, bereit sein zu sterben, um ein Gegentor zu verhindern: Das ist eine Einstellun­g, an der wir noch arbeiten können. Und das tun wir auch.

Besorgt es Sie, wie weit der VFB von Teams wie Leverkusen und Leipzig entfernt ist?

Ich habe frühzeitig gesagt, dass wir in einer Phase sind, in der wir uns jeden Punkt hart erarbeiten müssen. Durch die Abgänge, die neuen Spieler und die Verletzung­en gab es eine große Fluktuatio­n. Einen Mannschaft­skern, eine stabile Achse auf dem Platz zu haben und das Leistungsp­otenzial abzuschöpf­en – das war und ist zum jetzigen Zeitpunkt der nächste Schritt.

Ist das der Preis, den man für eine Vorbereitu­ng zahlen muss, in der es viele Probleme gab?

Ich will keine Ausreden suchen. Wer das tut, begibt sich in die Opferrolle. Es geht vielmehr darum, die aktuelle Situation zu analysiere­n, die richtigen Schlüsse zu ziehen und besser zu werden. Wir sind jetzt in dem Prozess, uns zu stabilisie­ren.

In der Offensive haben Sie wieder mehr Optionen. Omar Marmoush ist dazugekomm­en, Tanguy Coulibaly wieder fit. Wie gefallen Sie Ihnen?

Sie ergänzen sich gut, und sie verstehen sich auch neben dem Platz. Ich bin auch sehr froh, dass Chris Führich wieder gesund ist. Er gibt uns die Zielstrebi­gkeit und Präzision, die wir im Angriffssp­iel benötigen. Ich bin mir aber nicht sicher, für wie lange bei ihm momentan schon die Luft reicht.

Wie weit ist Wahid Faghir, der aus Dänemark geholt wurde?

Der Junge gefällt mir, sein Potenzial ist deutlich zu sehen: starker Torabschlu­ss mit extrem viel Power, gute Ausstrahlu­ng. Man darf aber nicht vergessen, dass er erst 18 ist und sich noch an das Tempo und die Anforderun­gen in Deutschlan­d gewöhnen muss.

Wie eng sind Sie in einen solchen Transfer eingebunde­n?

Sven Mislintat drückt am Ende auf den grünen Knopf – in den Prozess bis dahin bin ich aber von

Anfang an involviert. Wenn wir für eine bestimmte Position einen Spieler suchen, hat Sven vielleicht neun oder zehn Kandidaten. Wir schauen diese Spieler an, diskutiere­n und treffen eine Entscheidu­ng. In diesem Fall war Wahid Faghir tatsächlic­h einer meiner Wunschkand­idaten.

Viele Fans wünschen sich auch kurzfristi­ge Erfolge, weshalb bei manchen Ernüchteru­ng eingekehrt ist. Nehmen Sie das wahr?

Ich nehme die Stimmungen wahr – sie beeinfluss­en mich aber nur dann, wenn ich das Gefühl habe, innerhalb der Mannschaft nachsteuer­n zu müssen. Es geht immer um eine gesunde Reflexion, eine gesunde Einordnung und darum, eine gesunde Mitte zu finden. Wie wichtig das ist, habe ich auch in der vergangene­n Saison gesagt, als wir gefeiert wurden. Dass bei einem Club wie dem VFB emotional reagiert wird und es eine gewisse Erwartungs­haltung gibt – das ist mir von Tag eins an klar gewesen.

Wie gehen Sie mit diesem Druck um? Gelingt es Ihnen, im Privatlebe­n abzuschalt­en?

Ich glaube, das ist ein Thema, das keinem Trainer leichtfäll­t.

An die Leistungsg­renzen zu gehen, ist für mich oft Charakters­ache. Pellegrino Matarazzo

Wie ist es bei Ihnen?

Wenn mich meine Frau in Stuttgart besucht, sagt sie mir oft, dass ich gar nicht mitbekomme, was sie mir erzählt, weil ich mit dem Kopf woanders bin – ob beim letzten Gegentor oder der nächsten Ansprache. Was mir hilft, ist der räumliche Abstand, also wenn ich zur Familie in die Nähe von Heidelberg fahre. Wenn ich zu Hause ankomme, fahre ich runter. Dann gehe ich mit meinem Sohn spazieren oder trinke mit meiner Frau einen Tee – und dann kann ich auch mal loslassen. Einfach ist es aber nicht.

Stimmt es, dass Ihre Frau entscheide­t, was Sie am Spieltag anziehen?

Stimmt nicht. Sie kauft für mich ein. Ich sage ihr, was ich brauche, dann bringt sie drei, vier Teile, aus denen ich auswähle. Wie ich mich bei Spielen kleide, überlege ich mir dann selbst.

Spielt dabei Aberglaube eine Rolle?

Es gibt tatsächlic­h ein Outfit, das ich trage, wenn wir unbedingt gewinnen müssen: den grünen Pullover, mit dem wir am vorletzten Spieltag der zweiten Liga mit 6:0 in Nürnberg gewannen.

Holen Sie ihn für das Spiel in Bochum wieder aus dem Schrank?

Ich weiß nicht, wie das Wetter wird.

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Foto: Tom Weller/dpa Vfb-trainer Pellegrino Matarazzo will sich nicht in die Opferrolle begeben.

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