Heidenheimer Zeitung

Gewinner Groko

- Guido Bohsem zur Bundestags­wahl leitartike­l@swp.de

Willkommen in der neuen Republik! In einem Parlament, das nicht mehr aus Volksparte­ien, sondern aus Parteien für Einzelinte­ressen besteht. Wer was gegen den Klimawande­l machen möchte, stimmte für die Grünen, die Freunde der Ökonomie für die FDP. Wem zu viele Ausländer im Land sind, votierte für die AFD, die SPD stand für ältere Menschen und das Soziale und die Union für die verblieben­en Reste. Die Zeit der Ein-thema-parteien ist angebroche­n.

Schlauer hat das schon vor Jahren der Soziologe Andreas Reckwitz ausgedrück­t, der von der „Gesellscha­ft der Singularit­äten“spricht, was ja nichts anderes meint als eine Gemeinscha­ft, in der sich jeder Einzelne, jede Gruppe und damit auch jede Partei voneinande­r zu unterschei­den sucht, sich für besonders hält. Die Unterschie­de sind der Reiz, Gemeinsamk­eiten sind weniger bedeutsam.

So ist es dann auch nur mehr als folgericht­ig, wenn nun jede Partei das Votum der Wähler als Auftrag für ihre spezifisch­e Besonderhe­it deutet: Auftrag für das Klima, Auftrag für mehr Marktwirts­chaft, mehr Soziales und so weiter. Dabei lohnt ein Blick auf das Wahlergebn­is, um zu erkennen – die absolute Mehrzahl hat für ein beherztes Weiter so gestimmt. Die Politik der vergangene­n vier Jahre wurde eindrückli­ch bestätigt – zusammen hat die Groko nur 3,7 Prozentpun­kte verloren, was nach einer so langen Regierungs­zeit ja auch kein großes Ding ist. Sowohl Armin Laschet (CDU) als auch Olaf Scholz (SPD) haben versucht, sich als Germany’s next Merkel zu präsentier­en und im entscheide­nden Augenblick zeigte Scholz ganz offenbar die bessere Raute.

Die SPD liegt vorn, aber nur ganz knapp. Es irritiert deshalb, wenn nun unter Berufung auf Umfragen zu hören ist, dass die meisten Menschen in Deutschlan­d gern Scholz zum Kanzler hätten und er es deshalb machen müsse. Denn zumindest die wählenden Menschen haben klar zum Ausdruck gebracht, dass nur ein Viertel Scholz zum Kanzler will und deshalb sogar seine Partei wählt. In der Demokratie zählen Wahlergebn­isse und keine Meinungsum­fragen. Laschet, der große Verlierer, hat ebenfalls ein Viertel

Die Union ist darauf angewiesen, den Kandidaten, den sie nie wollte und liebte, ins Kanzleramt zu hieven.

der Stimmen erhalten, wenn auch einen Tick weniger als Scholz. Man kann also sagen, dass ungefähr genauso viele Wähler ihn als Kanzler sehen wollen. Ein moralische­s Recht darauf, Kanzler zu werden, gibt es nicht – auch nicht, wenn man viele Stimmen hinzugewon­nen hat.

Für Laschet, ach was, für die ganze CDU geht es in den anstehende­n Koalitions­verhandlun­gen nun ums Überleben. Sehnte sich die SPD vor vier Jahren noch nach einer Erneuerung in der Opposition, weiß jeder, der die Christdemo­kraten kennt, dass das für sie nur übel ausgehen kann. Wenn Scholz sich in vier Jahren erst mal den Amtsinhabe­r-bonus erarbeitet hat, dürfte er kaum noch zu schlagen sein. Ironischer­weise ist die ganze Union deshalb darauf angewiesen, den Kandidaten, den sie nie wollte und liebte, den Verantwort­lichen für die größte Wahlnieder­lage ihrer Geschichte, ins Kanzleramt zu hieven. Willkommen in der neuen Republik!

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