Verantwortung für die Opfer
2019 bricht im brasilianischen Brumadinho ein Damm, 270 Menschen sterben. Der Tüv Süd hatte das Bauwerk geprüft. In München klagen Hinterbliebene.
Es ist ein schreckliches Unglück geschehen“, sagt Florian Stork, Chef-justiziar des Tüv Süd. Im großen Gerichtssaal an der Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim spricht er den Angehörigen sein Beileid aus und meint: „Wir wollen das Leid überhaupt nicht infrage stellen.“Allerdings: Das deutsche Prüfunternehmen sehe „keine rechtliche Verantwortung“für die Katastrophe, die sich am 25. Januar 2019 im brasilianischen Brumadinho ereignete.
Der Bruch des Staudamms einer Eisenerzmine hatte eine gewaltige Schlammlawine ausgelöst, die Teile des Ortes zerstörte. 270 Menschen kamen ums Leben. Nur wenige Monate zuvor war der Damm vom brasilianischen Tüv-ableger untersucht und als sicher zertifiziert worden. Am Dienstag nun sitzen sich Vertreter aus Brumadinho, im Bundesstaat Minas Gervais gelegen, und Tüv-anwälte im Gerichtssaal in diesem zivilen Musterprozess gegenüber. Das Verfahren wird als bedeutsam und exemplarisch angesehen, denn hier wird über Neuland verhandelt: Kann ein Unternehmen für die Umweltkrimininalität zur Verantwortung gezogen werden, die eine Tochterfirma im Ausland begangen hat? Und dies ausgerechnet beim Tüv – einem Unternehmen, das für Genauigkeit und Sachkunde steht.
Avimar Barcelos ist der Bürgermeister von Brumadinho, und er ist extra nach München angereist. Ebenso wie zwei Brüder und der Ehemann der damals 30-jährigen Ingenieurin Izabela Barroso – sie war von der Lawine getötet worden. „Niemand kann Izabela zurückbringen“, sagt der
Bürgermeister vor Gericht. „Doch ich bin empört, dass der Tüv sich weigert, Verantwortung zu übernehmen.“Barcelos ist ein jüngerer Mann und erzählt, dass seine Gemeinde weiterhin leide und in großen Teilen zerstört sei. „Die sollen kommen und sich anschauen, was sie angerichtet haben.“
Die Vorsitzende Richterin des Landgerichts Ingrid Henn versucht, eine Güteverhandlung zu erreichen, bei der sich Kläger und Beklagte auf Entschädigungssummen einigen. Rechtsanwalt Jan Erik Spangenberg, der die Kläger vertritt, ist grundsätzlich bereit. Für die Gemeinde werden umgerechnet 70 000 Euro verlangt, für die Angehörigen der Getöteten zwischen 15 000 und 30 000. Das könnte der Tüv Süd problemlos aufbringen. Allerdings: Spangenberg vertritt nach eigenen Angaben weitere 1200 Angehörige. Für das Unternehmen würde dann 1 Milliarde Euro Entschädigung im Raum stehen, das könnte eine Firma durchaus ruinieren.
Doch neben dem Tüv gibt es ja vor allem auch den Betreiber der Mine, der in der Verantwortung steht. Dabei handelt es sich um den brasilianischen Mega-bergwerkskonzern Vale. Der Tüv stellt sich auf den Standpunkt, dass sein Gutachten „in Ordnung“gewesen sei, meint der Anwalt Philipp Hanfland, der das Unternehmen vertritt. Es gebe keinen „Nachweis missbräuchlichen Verhaltens“und keinen „Kausalzusammenhang“. Der Opfervertreter hingegen verweist auf Mails, in denen Vale-vertreter Druck beim Tüv gemacht haben sollen, ein positives Gutachten zu fertigen. Er benennt technische Details, die belegen sollen, dass nicht sauber geprüft wurde.
Auf keinen gemeinsamen Nenner kommt man auch bei der Frage, ob der Vale-konzern, der Tüv oder beide zur Entschädigung verpflichtet sind – und was bisher aufgebracht wurde und noch ansteht. 5,8 Milliarden Euro stehen im Raum, die der Vale-konzern versprochen haben soll. Das meiste davon gehe aber in den Straßenbau, der wiederum vor allem den Bergbau-konzernen nutzt, kritisiert Jan Erik Spangenberg. „Von den Angehörigen hat noch niemand irgendeine Entschädigung erhalten.“Tüv-anwalt Hanfland widerspricht: Die Auszahlung werde vorbereitet, im kommenden Jahr werde Geld fließen, „eine gigantische Summe“. Und zwar auch an die Angehörigen. Dies bezweifeln die Kläger. Spangenberg: „Da müsste man noch Jahre und Jahrzehnte warten.“
In München war dies der erste und zugleich letzte Prozesstag. Die Parteien sollen, so sagt die Richterin, nun schriftlich Fragen beantworten. Auf das Urteil müssen die Menschen aus Brumadinho und der Tüv eine Weile warten – es ist für den 1. Februar 2022 angesetzt.
Die sollen kommen und sich anschauen, was sie angerichtet haben.
Avimar Barcelos
Bürgermeister von Brumadinho