„Wird Kindern nicht gerecht“
Realschulen sollen auf zwei Niveaus unterrichten und den Hauptschulabschluss anbieten. In der Praxis herrscht Frust. Ist das Modell gescheitert?
Rektoren, die Eltern abraten, ihre Kinder mit Blick auf einen Unterricht auf Hauptschulniveau bei der Realschule anzumelden, überforderte Lehrer, frustrierte Schüler: Der Unterricht an den Realschulen in den Klassen 7 bis 9 muss seit 2016 auf zweierlei Niveau erfolgen, wenn Nachfrage besteht. Außerdem müssen die Realschulen den Hauptschulabschluss anbieten. Dieses Konzept wurde 2016 von der damaligen grün-roten Landesregierung unter der Überschrift „Stärkung der Realschule“eingeführt – im Gefolge des Wegfalls der verbindlichen Grundschulempfehlung 2012.
Ist Besserung in Sicht? Der wissenschaftliche Beirat soll „das Realschulkonzept sowie die dafür bereitgestellten Ressourcen evaluieren mit dem Ziel, an der Realschule die Defizite zu beheben und die Qualität zu stärken“, so steht es im grün-schwarzen Koalitionsvertrag. Der Beirat hat nun seine Arbeit aufgenommen. Bis wann es ein Ergebnis gibt, ist noch offen. „Die Realschule in Baden-württemberg ist eine leistungsstarke Schule, die sich konstanter Nachfrage und Akzeptanz erfreut“, betont aber Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) gegenüber unserer Zeitung.
Die Realschulen entscheiden selbst, ob sie Gruppen, Klassen oder Züge bilden oder im Unterricht selbst differenzieren. Aus den Reihen der Realschulrektoren kommt aber deutliche Kritik. Es mache keinen Sinn, ein bis zwei Schüler in einer Klasse auf dem Hauptschulniveau zu unterrichten. „Das wird den Schülern nicht gerecht“, sagt Holger Gutwald-rondot, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Realschulrektoren. „Der Lehrer braucht für diese Schüler andere Klassenarbeiten, auch eine völlig andere Art des Lernens, nämlich ein geführteres Lernen.“
Große Realschulen könnten eigene getrennte Klassenzüge anbieten, wie etwa an der Kraichgau-realschule in Sinsheim, die Gutwald-rondot leitet. Die Realität in vielen Realschulen sieht aber anders aus. „Wenn die Realschule diesen Auftrag ordentlich übernehmen soll, braucht sie dafür eigene Züge und Klassen, um diesen Schülern gerecht zu werden,“sagt der Sprecher der Rektoren. Doch dafür brauche es zusätzliche Lehrer. Die Alternative: Man müsse wieder die Hauptschulen stärken, ist Gutwald-rondot überzeugt. Auch der Philologen- und der Realschullehrerverband gehören zu den klaren Kritikern.
Nach dem Konzept von 2016 orientieren sich in den Klassenstufen 5 und 6 der Unterricht und die Notengebung ausschließlich am „mittleren Niveau“. Erst Ende Klasse 6 wird anhand der Noten entschieden, ob ein Schüler auf dem „grundlegenden Niveau“(Hauptschulniveau) oder auf dem „mittleren Niveau“(Realschulniveau) weiterlernt. Eine landesweite Erhebung im Schuljahr 2018/2019 ergab, dass in der Klassenstufe 7 vier Prozent, in der Klassenstufe 8 etwa sechs Prozent und in der Klassenstufe 9 ungefähr acht Prozent der Schülerinnen und Schüler auf dem „grundlegenden“, zum Hauptschulabschluss führenden Niveau unterrichtet wurden.
Im Kultusministerium sieht man die anspruchsvolle Aufgabe, kennt auch die Kritik vor Ort. „Dies stellt – je nach Zusammensetzung der Schülerschaft – einige Realschulstandorte vor Herausforderungen. Es gilt, sehr leistungsschwache Schülerinnen und Schüler im Blick zu behalten, damit es nicht zu Frustration bzw. Demotivation führt“, heißt es in einer Stellungnahme. Aber man sieht keinen Anlass zu zweifeln, dass die Lehrer dies leisten können: „Von einer Überforderung kann nicht die Rede sein. Die Realschulen haben eigene Konzepte entwickelt, wie mit der zunehmend heterogenen Schülerschaft umgegangen werden kann. Die zusätzlichen Stunden können ab Klassenstufe 7 in der Realschule dazu genutzt werden, die Klassen getrennt zu unterrichten.“Zudem gebe es Fortbildungen und den Einsatz von Fachberatern.
Die Realität sieht laut Gutwald-rondot anders aus, nicht zuletzt wegen der weggefallenen verbindlichen Grundschulempfehlung: „In der Orientierungsstufe haben wir völlig frustrierte Kinder, weil sie zwei Jahre lang dem Niveau nicht gewachsen sind.“Ein Sitzenbleiben in der Klasse 5 gibt es zudem mit diesem Konzept nicht mehr. Weitere Realschulrektoren schilderten unserer Zeitung, dass Anspruch und Wirklichkeit völlig auseinandergehen. Die Lehrer seien vielfach nicht in der Lage, den Spagat zu leisten, ganz zu schweigen vom erheblichen organisatorischen Aufwand für die Förderstunden. Zudem gebe es Friktionen in den betroffenen Klassen.
Wir haben völlig frustrierte Kinder, die zwei Jahre lang dem Niveau nicht gewachsen sind. Holger Gutwald-rondot
Sprecher AG Realschulrektoren