„Lasse mich nicht von Angst leiten“
Bis Mitte August war Stefan Recker für die Caritas vor Ort. Dann musste er ausreisen. Jetzt packt er wieder seine Koffer. Doch wie helfen, ohne die radikalislamischen Taliban zu unterstützen?
Seit sechs Wochen – und damit so lange wie seit 21 Jahren nicht mehr – ist Stefan Recker jetzt in Deutschland. Der Afghanistan-chef von Caritas international wurde am 17. August Hals über Kopf aus Kabul ausgeflogen. Mit seinem dortigen Team hält er jetzt von Freiburg aus Kontakt. Er hört nichts Gutes. Abschrecken lässt er sich davon aber nicht.
Herr Recker, können Sie sich vorstellen, wieder nach Afghanistan zu gehen?
Ich habe bereits einen Flug für den
10. Oktober nach Pakistan reserviert. Von dort reise ich dann mit dem Flugdienst der Vereinten Nationen nach Kabul.
Haben Sie keine Angst?
Wenn ich mich davon leiten ließe, könnte ich diesen Job nicht machen.
Sie haben in den 90er-jahren schon einmal unter den Taliban gearbeitet. Wie war das?
Das erste Mal, im Oktober 1995, habe ich im Süden des Landes gearbeitet. Dort kamen die Taliban ursprünglich her. Sie waren eng mit der Bevölkerung verbunden. Daher fielen sie kaum auf. Das war 1997 in Herat, einer großen Stadt im Westen des Landes, anders. Dort sind die Taliban als Besatzer aufgetreten. Sie haben Frauen auf der Straße geschlagen, die nicht nach ihren Vorstellungen gekleidet waren. Meine Einstellung den Taliban gegenüber hat sich damals radikal geändert. Jahre später, 2001, habe ich im Osten des Landes ein Bewässerungsprojekt geleitet. Das ist mit Hygieneschulungen verbunden. Und um Hygiene Kindern beizubringen, brauchen wir Frauen. Es war schwierig, das mit den Taliban zu verhandeln. Aber das Projekt war für die Region extrem wichtig. Da hatten wir einen Hebel in der Hand. Die Taliban stimmten schließlich zu – und hielten ihr Wort.
Gibt es diesen Spielraum heute auch?
Unsere derzeitigen Projekte sind kleinteiliger. Wir müssen sie möglicherweise so umgestalten, dass die Taliban sie als Erfolg verkaufen können – und im Gegenzug Frauenarbeit erlauben. Ob das gelingt, wissen wir nicht.
Welche Projekte liefen zuletzt?
Mit nationalen Partnern hatten wir zwölf Projekte. Diese drehten sich um die Mutter-kind-gesundheit, psychosoziale Gesundheit, Arbeit mit Drogenabhängigen in Kabul, Binnenflüchtlingen und Rückkehrern, Erwachsenenbildung, Winterhilfe plus Lepra- und Tuberkulosearbeit. Daneben gab es noch eine Orthopädieund Prothesenwerkstatt. Zehn Projekte sind jetzt auf Eis gelegt. Nur das Orthopädieund Lepra-projekt arbeitet weiter. Sie haben noch ausreichend Materialien.
Warum haben die anderen Projekte ihre Arbeit eingestellt?
Weil es kein Geld gibt. In Afghanistan hat die Zentralbank ihre Zahlungen eingestellt. Deswegen haben die Privatbanken keine Liquidität. Wir können weder Material noch Löhne bezahlen und müssen warten, bis wir über die Banken wieder an Geld kommen. Es im Koffer einzuführen, geht nicht. Das wäre nicht nur gefährlich, sondern auch verboten. Als Organisation, die auch öffentliche Gelder einsetzt, haben wir strenge Auflagen.
Im militärischen Bereich stellen sich viele die Frage, ob sich der Einsatz gelohnt hat. Wie ist Ihre Bilanz: Waren die vergangenen Jahrzehnte humanitärer Hilfe vergebens?
Auf keinen Fall. Es gibt Marker für die Effektivität unserer Projekte. Bei klassischen Nothilfeprojekten ist das die Kindersterblichkeit. Kinder reagieren sofort auf äußere Veränderungen. Mit unseren Trinkwasserprojekten konnten wir die
Kindersterblichkeit um rund 40 Prozent senken. Ähnliches gilt bei der Nahrungsmittelhilfe oder der Winterhilfe. Wie langfristig das wirkt, wissen wir nicht. Doch wir glauben, dass Dorfgemeinschaften durch die enge Zusammenarbeit initiativer werden. Wir sehen das beim Ressourcen- und Erosionsschutz.
Caritas international ist ein kirchliches Hilfswerk. Geht das überhaupt in Afghanistan?
Wir präsentieren uns da nicht als kirchliche Organisation. Vermutlich kennen nicht einmal unsere Fahrer oder Köchinnen unseren Hintergrund. Dass wir ein kirchliches Hilfswerks sind, hat jedoch den Vorteil, dass wir einen langen Atem und eigene Mittel haben. Das gibt uns Gestaltungsspielraum.
Brauchten Sie zur Realisierung der Projekte die Hilfe der Bundeswehr?
Nein, überhaupt nicht. Das könnte für die Weiterarbeit von Vorteil sein.
Sie mussten Afghanistan am 17. August verlassen. Wie war das für Sie? Sie wollten ja nicht weg.
Nein. Ich hatte eine Dienstanweisung, und der muss ich folgen. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, ob meine Präsenz unsere nationalen Mitarbeiter gefährdet. Die meisten Taliban sind junge, ungebildete Jungs, die noch nie einen Ausländer gesehen haben. Sie haben oft äußerst merkwürdige Vorstellungen. Deshalb weiß niemand, wie sie reagieren, wenn sie einen Ausländer vor sich haben.
Stehen Sie in Kontakt mit Ihren Kollegen in Afghanistan?
Ja. Jeden Tag von Sonntag bis Donnerstag schalten wir uns um 6.30 Uhr zusammen. Meine Kollegen müssen wissen, dass wir sie nicht im Stich lassen. Als ich ausgeflogen wurde, fühlten sie sich verlassen. Sie haben ja Angst, fühlen sich bedroht. Jetzt stehen alle auf der Liste des Bundesinnenministeriums. Damit können sie evakuiert werden und über Pakistan nach Deutschland kommen.
Das hört sich gut an, doch welche Perspektive haben Ihre Kollegen in Deutschland?
Kaum einer wird in Deutschland eine Arbeit finden. Den Beruf des Fahrers gibt es hier nicht. Die Menschen werden auf staatliche Hilfe angewiesen sein. Das ist keine schöne Aussicht. In Afghanistan hatten sie ein ordentliches Gehalt. Sie konnten ihre Familien unterstützen. Das geht von Deutschland aus nicht mehr. Zudem können nur die Kernfamilien ausreisen – Ehepartner und Kinder. Eltern und Geschwister bleiben dann zurück. Klar ist aber auch, dass wir Mitarbeitende haben, die sich ernsthafte und berechtigte Sorgen um ihre Sicherheit und die ihrer Familien machen. Es versteht sich von selbst, dass wir alles in unserer Macht stehende tun, um sie zu beschützen und ihnen auch helfen, das Land zu verlassen.
Was hören Sie über das Leben in Kabul?
Die Lage ist völlig unkalkulierbar. Die Talibanführung gibt sich derzeit konziliant. Doch das, was die Taliban-fußsoldaten umsetzen, ist etwas ganz anderes. Von ihnen werden unsere Leute aufs Übelste beschimpft. Unsere sechs Kolleginnen können gar nicht mehr auf die Straße aus Angst vor Patrouillen. Den beiden jüngsten könnte dann eine sofortige Zwangsheirat drohen.
Das heißt, es ist unklar, wer im Moment das Sagen hat…
Ja. Das ist auch der Unterschied zu den Taliban in den 90er-jahren. Damals gab es eine klarere Hierarchie. Heute haben wir mehrere Schuras, die bestimmen wollen. Hinzu kommen einzelne Feldkommandeure, die noch Rechnungen mit Ausländern offen haben.
Wie sieht der Alltag Ihrer Kollegen aus? Was sind die größten Probleme?
Geld. Seit August können die Löhne nicht mehr ausbezahlt werden. Keiner weiß, wie es weitergeht. Vor allem für Frauen ist die Ungewissheit groß.
Auch in den Provinzen?
Demonstrationen von Frauen, wie in den Städten, gibt es auf dem Land nicht. Dort ist das Leben traditioneller. 70 bis 80 Prozent der Afghanen leben auf dem Land. Meist von Landwirtschaft.
Sichert sie das Überleben?
Nein. 18 Millionen Afghanen haben nicht genug zu essen. Afghanistan besteht überwiegend aus Bergen und Hochgebirgswüsten. Organisierte Landwirtschaft ist nur möglich, wo es Bewässerungssysteme gibt. Schon vor den Taliban wurden selbst in guten Jahren nur 60 bis 70 Prozent des Weizen- und Reisbedarfs im Land angebaut. Der Rest musste importiert werden. Ohne externe Hilfe geht es nicht. Das Land wird so schnell nicht autark. Von Bodenschätzen im Norden wird zwar geredet. Ich bin da aber skeptisch.
Welche Perspektive ergibt sich daraus?
Das Land braucht Bildung, damit Erwachsene in den Nachbarländern temporär Arbeit finden und Geld nach Hause schicken können. Dieses Modell gibt es schon seit 200 Jahren. Viele Afghanen haben zum Beispiel in der indischen Armee gedient.
Erwarten Sie eine Flüchtlingswelle?
Wir rechnen damit. Doch noch gibt es keine größeren Ströme in die Nachbarländer.
Die internationale Geberkonferenz will eine Milliarde Us-dollar zuschießen. Müssen Bedingungen daran geknüpft werden?
Zunächst muss Geld ins Land kommen, damit die Wirtschaft in Schwung kommt. Doch ich halte nichts davon, das Taliban-regime finanziell zu unterstützen. Wie man dem Land helfen kann, ohne den Taliban zu helfen, ist eine schwierige Frage. Bis zum 15. August hat Berlin die afghanische Regierung jährlich mit 400 Millionen Euro Budgethilfe unterstützt. Im Prinzip ohne Bedingungen. Nicht einmal eine wirksame Korruptionsbekämpfung wurde eingefordert. Ich fände es falsch, das fortzusetzen.
Kann der Westen Einfluss auf die Taliban nehmen?
Ich würde das vermeiden. Denn das bedient deren Narrativ, dass der Westen sie verändern will. Wenn wir humanitäre Hilfe leisten, sehen die Taliban ja, dass wir es gut mit den Menschen meinen. Vielleicht führt das zu Wandel.
Zuletzt schien es nicht so, als habe der Westen eine realistische Einschätzung der Lage in Afghanistan. Wie erklärt sich das?
Die militärische Entwicklung der vergangenen drei Monate hat in dieser Form niemand vorausgesehen. Das wäre möglicherweise anders gewesen, wenn sich die Geheimdienste der verschiedenen Länder ausgetauscht hätten. Ich war bis zum 14. August auch überzeugt, dass Kabul nicht so schnell fällt. Am 15. August wusste ich es besser. Durch Kooperation hätte man mehr wissen können.
Welche Aufgaben erwarten Sie, wenn Sie in wenigen Tagen zurückkehren?
Ich muss abklären, welche Projekte wir fortsetzen können. Möglicherweise muss ich neue Leute suchen, falls unser bisheriges Team ausgereist ist. Dann muss ich schauen, ob wir Sicherheitsgarantien für unsere Arbeit bekommen und ob wir an Geld kommen. Die Taliban träumen noch davon, dass sie zehn Prozent unseres Nothilfe-budgets als Steuer erhalten. Da macht keine Hilfsorganisation mit. Wenn das jedoch zur Bedingung wird, packen wir unsere Sachen und gehen. Noch sind sich die Hilfsorganisationen da einig.
Ich war bis zum 14. August auch überzeugt, dass Kabul nicht so schnell fällt.