Die Hölle und der Himmel
Die Sopranistin Angela Denoke debütiert am Theater Ulm als Regisseurin – dort, wo ihre Weltkarriere einst begann. Eine starke „Katja Kabanova“.
Er kann sich gar nicht daran satt sehen an der Natur, an der Schönheit der Wolga. „Ein außergewöhnlicher Anblick!“, seufzt Vanja Kudraš: „Die Seele freut sich.“Aber jetzt sitzt der Lehrer auf einem zerfetzten Gemäuer und schaut auf ein ausgetrocknetes Flussbett. Kieselsteine, Moos, Treibgut, ein altes Sofa. Und die Seelen in diesem Dorf – die sind auch bald ziemlich zerstört.
Das ist ein starkes, surreal-unheilvolles Bühnenbild für „Katja Kabanova“am Theater Ulm: für die Oper von Leos Janacek, die eine tragische Liebesgeschichte erzählt, aber auch von Verlusten und unerfüllbaren Sehnsüchten. Regisseurin Angela Denoke sowie Timo Dentler und Okarina Peter (Ausstattung) zeigen in dieser Staudamm-ödnis ein eindrucksvolles Endspiel: einsame, entwurzelte Menschen in Erwartung der nächsten Flut.
Ein Kreis schließt sich
Angela Denoke – ja, die gefeierte Sopranistin, bald 60, hat jetzt als Regisseurin debütiert. Und zwar in Ulm, wo sie als Ensemblemitglied von 1992 bis 1996 begonnen hatte, wo sie etwa unter dem blutjungen Kapellmeister Philippe Jordan (heute Musikdirektor der Wiener Staatsoper) als Jenufa glänzte, ehe sie an die Staatsoper Stuttgart wechselte und eine Weltkarriere startete, die sie bis an die New Yorker Met führte. Sie inszeniert ausgerechnet „Katja Kabanova“, jene Oper, mit der sie 1998 bei den Salzburger Festspielen unter Regisseur Christoph Marthaler triumphierte – und in der sie auch ihren Ehemann kennenlernte, den Tenor David Kuebler, der damals den Boris sang. So schließen sich Kreise.
Die Norddeutsche aus Stade war nie eine Belcanto-diva, die sich gefügig an der Rampe aufstellen ließ, sondern eine wissende, selbstbewusste Schauspielerin unter den Sängerinnen. Die „Wozzeck“-marie, die „Rosenkavalier“-feldmarschallin, die Salome gehörten zu ihren prägenden Partien – zuletzt war sie an der Bayerischen Staatsoper in Aribert Reimanns „Lear“präsent. Aber nun hat sie erstmals die Seiten gewechselt: „Dilettantismus kann ich überhaupt nicht ausstehen. Ein Regisseur muss mir etwas anbieten. Ich möchte stark gefordert sein“, sagte sie einmal in einem Interview mit unserer Zeitung. Die große Brigitte Fassbaender habe sie vor Jahren dazu ermutigt, Regie zu führen: „Du bist der richtige Typ dafür.“Das kann man in Ulm sehen: Sehr konzentriert und intensiv zeichnet Angela Denoke
die Figuren – sie weiß offenbar aus Erfahrung, wie es ist, als Sängerin von Regisseuren im Stich gelassen zu werden.
Freilich war die „Katja“-premiere schon für die letzte Saison geplant gewesen, und wegen der Corona-pandemie ist jetzt eine spezielle Fassung der Oper zu erleben. Kudraš sieht jedenfalls, um im Bild zu bleiben, von seiner Ruine aus auch keinen Orchestergraben. Kapellmeister Levente Török hat die Partitur für nur drei Instrumente arrangiert: Klavier, Harmonium, Harfe (die Akteure agieren im Bühnenbild).
Natürlich fehlt der so expressive Orchesterklang Janaceks, die melodiöse Wucht. Andererseits ist das eine aus Sprachpartikeln zusammengesetzte, oft rezitativische Tonsprache, die psychologisch genau Charaktere zeichnen kann. Also diese Ulmer „Katja“wirkt geradezu als ein Schauspiel mit Musik. Dem ausgezeichneten Ensemble gelingt es (auf Tschechisch), die emotionale Spannung aufzubauen und zu halten. Und Töröks Bearbeitung macht Sinn: das Harmonium mit seiner sphärisch weichspülenden Wohnzimmerheiligkeit, die Harfe mit den Tönen fürs Überirdische in der Kleinbürgerhölle.
Es ist die Geschichte der unglücklich mit Tichon (Girard Rhoden), dem verdruckten Muttersöhnchen, verheirateten Katja – aber auch die der herrisch-brutalen Schwiegermutter Kabanicha (in aller fiesen Monströsität gesungen von der eigentlich dafür viel zu jungen I Chiao Shih). Katja also träumt davon auszubrechen, fliegen möchte sie wie ein Vogel – aber sie wird abstürzen. Sie weiß bald, dass sie für ihre verbotene Leidenschaft zu Boris (Markus Francke) sterben muss, aber ein Leben in Lüge kommt für sie nicht Frage.
Auf der Schaukel
In Ulm geht Katja am Ende nicht ins Wasser, in den Freitod. Sie fährt in den Himmel auf, als ein zukünftiger Engel. Auf der Schaukel saß sie in einer zukunftsfrohen Schwerelosigkeit, aber jetzt schwebt sie nach oben aus dem versunkenen, wieder aufgetauchten, unwirklichen Leben der Talsperre. Die Regisseurin rettet gewissermaßen ihre Katja, lässt sie nicht als Opfer zurück. Doch einen Leidensweg hat Katja hinter sich. Sie bleibt mahnend im Gedächtnis. Ein etwas anderer Liebestod auf der Opernbühne.
So durchdacht, konzise formt Angela Denoke Figuren, Szenerien. Und Maria Rosendorsky stellt diese Katja Kabanova als zerbrechliche wie tapfere, als staunende wie tatkräftige Frau wunderbar dar – und singt mit einer warmen, einnehmenden Stimme. Jubel – nach einer Premiere mit Zuschauerlücken. Das Abonnement ist auch in Ulm in der Corona-krise noch ausgesetzt, die Theater haben es nicht leicht. Die Opernkunst aber ist zurückgekehrt.
Die große Brigitte Fassbaender hat sie dazu ermutigt, Regie zu führen.