Unvollendete Weltkarte
Der Fotograf Roger Eberhard hat für einen Bildband Grenzen dokumentiert. Die unsichtbaren Linien des Trennenden und die Zeichen der Vergänglichkeit sind dabei die faszinierendsten.
icht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk begrenzen einander; sondern die Einwohner oder Eigentümer . . .“Auch wenn es hier unvollständig wiedergegeben ist, das Zitat des Soziologen und Philosophen Georg Simmel aus seiner 1903 veröffentlichten Schrift „Soziologie des Raumes“, bezeichnet es mehr als 100 Jahre später unverändert die Realität unserer Gesellschaften und Nationen.
Nicht der Rhein trennt Deutsche und Franzosen, sondern sie wählten den Fluss, die natürliche Scheide, als Nationengrenze. Aber Geografie unterliegt dem Willen der Mächtigen, ist nicht konstitutiv, wie die deutsch-französische Geschichte anschaulich zeigt. Mal gehörte das Elsass zu Deutschland, dann Straßburg wieder zu Frankreich. Das Saarland befand sich von 1920 an unter der Verwaltung des Völkerbundes, war Teil des französischen Wirtschaftsraums, bis es sich Deutschland 1935 zurückholte.
Wenn es eines gibt, das sicher ist, dann dass die „Weltkarte unzählige Mal neu gezeichnet worden ist“, so Henk van Houtum, Professor für politische Geografie und Geopolitik an der Universität
Nijmegen. In seinem Vorwort zu Roger Eberhards Bildband „Human Territoriality“verweist er auf ein faszinierendes historisches Faktum: „Es hat keine Grenze in der Geschichte der Menschheit gegeben, die nicht verschwunden ist.“
Grenzen verschieben sich, sie werden umkämpft, verteidigt oder überwunden, an anderer Stelle neu aufgezogen. Staatsgrenzen sind kollektive Selbstbehauptungen. Henk van Houtum zitiert den in Karlsruhe lehrenden Philosophen Peter Sloterdijk, der zu dem Schluss kam, dass eine Grenzziehung ein großes Nein gegen den Tod einer Nation sei.
Der Titel des Bildbands lässt sich nicht eindeutig ins Deutsche übertragen: Jedenfalls zeigen Roger Eberhards Landschaftsansichten die von Menschen und Gesellschaften geschaffenen Hoheits- und Herrschaftgebiete mit den sichtbaren und unsichtbaren Zeichen ihrer Einhegung: menschliche Territorialitäten – in denen übrigens kein menschliches Wesen vorkommt (ein Merkmal von vielen anderen Arbeiten Eberhards).
In den knappen Erklärungen zu Roger Eberhards Fotografien von bestehenden und ehemaligen Grenzen und ihren Regionen werden selten die Verantwortlichen, die Krieger, Herrscher und
Politiker genannt, die Zäune und Wälle errichten ließen oder mit einem Strich auf der Landkarte Gebiete und Länder definierten.
Bei den entsprechenden Ansichten – sei es die ehemalige Grenze zwischen Texas und Mexiko am 100. Längenkreis, seien es Ruinen der griechischen Stadt Myrmekion auf der Krim müssen die prominenten Namen nicht genannt werden, die dem Betrachter in den Sinn schießen. Putins Annexion der Krim, Trumps Pläne, eine durchgehende, 3145 Kilometer lange Mauer zwischen den USA und Mexiko zu errichten – schlagend wird offenbar, dass für gegenwärtige Despoten Grenzfragen nach wie vor hochpolitisch sind, sie mit ihrer Hilfe das persönliche Profil schärfen.
Dieser leise mitklingende Horizont verleiht Eberhards konzentriert-ruhigen Bildern eine verblüffend sprechende Qualität. Sie bergen Brisanz oder Geheimnis, Vergangenheit oder Gegenwart – zugleich, wenn man nur richtig schaut, offenbaren sie eine schwer zu beschreibende Poesie.