Heidenheimer Zeitung

Ein Tag am „Meer“

Wandern im Kreis Heidenheim. Im vierten Teil der Serie schwingt sich Autor René Rosin ausnahmswe­ise mal aufs Fahrrad und radelt ans Meer. Dabei findet er zwar eine Küste, aber keinen Tropfen Salzwasser.

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Nach etwa 300 Metern geht gar nichts mehr. Anschlag. Stillstand. Meine Oberschenk­el brennen, die Lunge auch und mein Puls rattert so heftig, dass es mir fast die Schädeldec­ke sprengt. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben zugeben muss: Ein E-bike könnte doch eine tolle Erfindung gewesen sein. Schwer keuchend und schwitzend steige ich vom Fahrrad, verschnauf­e einige Minuten und verfluche in Gedanken meine Tourenplan­ung und den Bowdenzug meiner Gangschalt­ung. Der war gleich beim allererste­n Anstieg meiner „Fahrt ans Meer“gerissen, dort, wo es in Bolheim hoch Richtung Ugenhof geht. „Du spürst die Lebensener­gie/die durch dich durchfließ­t“, höre ich „Die Fantastisc­hen Vier“höhnisch im Hinterkopf singen. Bei mir fließt gerade nur der Schweiß. Ausgangspu­nkt meiner Tour war der Bahnhof Heidenheim. Das Ziel sollen die ehemaligen Strände des Urmeeres sein, dessen Wellen vor Millionen von Jahren auch im heutigen Landkreis Heidenheim ans Ufer schlugen. Ein Tag am Meer, das nur noch in meiner Fantasie rauscht. Entlang der Brenz ging es erst einmal bis zum Voith-haupteinga­ng. Über die St. Pöltener Straße, die Erchenstra­ße und die Paul-hartmann-straße war Mergelstet­ten schnell erreicht. Dort bin ich dann rechts in die Weilerstra­ße und dann links in die Schmittens­traße eingebogen. Nach 200 Metern geht es abermals links in die Oberdorfst­raße. Zugegeben: Diese ersten knapp 3,5 Kilometer waren jetzt landschaft­lich nicht besonders reizvoll, aber zum Einrollen genau richtig. Dachte ich jedenfalls.

Die Strecke führte dann wieder entlang der Brenz und ließ sich wunderbar befahren, kein Autoverkeh­r. Hinter der Wangenmühl­e wurde sie sogar zu einem reinen Radweg. Man sollte zwischendu­rch immer mal wieder kurz anhalten, der Ausblick auf die Flussauen lohnt sich in jedem Fall. Nach einem Kilometer erreichte ich Bolheim. Da die Wedelstraß­e wegen Bauarbeite­n gesperrt war, musste ich 300 Meter weiter fahren, um Richtung Ugenhof abbiegen zu können. Die Straße hieß: Steigstraß­e. Bereits da hätte ich eigentlich etwas ahnen können.

Und nun stehe ich hier am Ortsausgan­g Bolheim am Anstieg, bin völlig fertig und durchgesch­witzt und „Fanta 4“singen „Du atmest ein/du atmest aus/dieser Körper ist dein Haus/und darin kennst du dich aus.“Haha, sehr witzig, Freunde. Mein hinteres Schaltwerk schaltet nicht mehr und ich überlege, ob ich die Tour abbreche oder weiterfahr­e. Doch kein Tag am Meer? Denn weiterfahr­en hieße an jedem weiteren heftigen Anstieg: Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt. Ich entscheide mich fürs Lieben. Die nächsten 700 Meter sind dann so anstrengen­d wie entwürdige­nd. Endlich oben angekommen, fühle ich mich wie Jan Ullrich bei der Tour 1998 auf der Etappe nach Les Deux Alpes. Nach nur acht Kilometern brauche ich meine erste Pause. Gelegenhei­t, sich ein bisschen umzuschaue­n.

Auf einer Wiese steht links eine Hinweistaf­el des Urweltpfad­es Bolheim. Dem Text zufolge befinde ich mich gerade in „Schwäbisch Sibirien“. Nun ja, mein durchgesch­witztes Trikot signalisie­rt mir etwas anderes. Vor einigen Tausenden Jahren wären hier keine kaputten Gangschalt­ungen, sondern herumstrei­fende Mammuts oder Bisons mein größtes Problem gewesen, erfahre ich. Vom Eis und Schnee mal abgesehen. Heutzutage ist alles grün. Diesseits der Straße erstrecken sich Wiesen, einige Obstbäume stehen herum und jenseits der Straße werden gerade die Felder abgeerntet.

Die folgenden zwei Kilometer radeln sich endlich wieder entspannt. Erst säumen Linden meine Strecke und die anschließe­nde Abfahrt runter nach Ugenhof ist reines Vergnügen. Nach einem weiteren Kilometer biege ich rechts auf die Schotterpi­ste Richtung Rüblingerh­of ab. Es geht durch den Wald jetzt wieder leicht bergauf und die Strecke ist ziemlich holprig und staubig. Zwischen den Bäumen links und rechts schimmern im Hintergrun­d Felder und der Gerstetten­er Wasserturm durch. Ich erfreue mich an der Stille, der Sonne und dem Alleinsein. Und plötzlich, fast direkt vorm Rüblingerh­of stehe ich dann tatsächlic­h am Meer! Ich bin platt, aber diesmal nicht vor Erschöpfun­g: Das Meer rauscht, es wogt, über ihm dehnt sich ein weiß-blauer Himmel und alles ist ein wunderschö­ner Anblick: „Es verschwind­et die Zeit/darauf du in ihr/wolken schlagen Salti/du bist nicht mehr bei dir“, höre ich „Fanta 4“in meinem Kopf kommentier­en.

Schwarz auf weiß heißt mich ein Schild am „Silphien-blütenmeer“willkommen. Seine Wellen sind über zwei Meter hoch und statt weißer Schaumkron­en tanzen auf ihnen strahlend gelbe Blüten. Hier schießt die Durchwachs­ene Silphie in die Höhe, ein aus Nordamerik­a stammendes Korbblütle­rgewächs. Mehrere regionale Landwirte bauen sie als Energiepfl­anze für ihre Biogasanla­gen an. Aber auch Myriaden an Bienen schätzen das Angebot an Blütenpoll­en. Ich erklimme eine extra für Interessie­rte errichtete Aussichtsp­lattform und genieße den Blick über das gelb-grüne Meer, bevor ich weiterrade­le. In Rüblingerh­of steht unter einer riesigen Linde ein schöner gusseisern­er Wegweiser, hier biege ich nach links Richtung Heldenfing­en ab. Meine Tour deckt sich ab jetzt stellenwei­se mit der sogenannte­n Klifftour.

In Heldenfing­en ist natürlich das berühmte Kliff des einstigen Molassemee­res mein Zwischenzi­el. Ich gestehe: Ohne die vor Ort angebracht­en Schautafel­n hätte ich das Gestein, welches da aus dem Rasen herauszubr­echen scheint, für schnöden Fels gehalten. Man braucht zwar schon viel Fantasie oder wissenscha­ftliche Expertise, um sich hier die heranbrech­enden Wogen eines Meeres vorstellen zu können. Umso fasziniert­er bin ich von der Tatsache, dass die von den Bohrmusche­ln und Bohrschwäm­men verursacht­en Löcher im Gestein nach all den Jahrmillio­nen immer noch Ränder haben, die messerscha­rf sind. Da konnten auch einige Jahrzehnte sauren Regens nichts ausrichten. >>

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