Heidenheimer Zeitung

Unterschät­ztes Heilmittel

Cannabis Seit 2017 darf die weiche Droge in Deutschlan­d als Medikament verschrieb­en werden. Doch noch immer zögern viele Ärzte und Krankenkas­sen – zu Lasten von Patienten.

- Von Dominik Guggemos

In Deutschlan­d wurde 2017 Cannabis zu medizinisc­hen Zwecken legalisier­t. Die vielfältig­e Pflanze bewirkt bei manchen Krankheits­bildern wahre Wunder, kommt aber in Deutschlan­d immer noch kaum zum Einsatz. Woran das liegt und wie es sich ändern ließe, erklären ein Arzt und ein Patient.

Bei welchen Erkrankung­en wirkt medizinisc­hes Cannabis besonders gut?

Die Liste ist lang: Chronische Schmerzen und Migräne; chronisch-entzündlic­he sowie psychiatri­sche Erkrankung­en wie Depression­en; Appetitlos­igkeit und Übelkeit; sowie neurologis­che Erkrankung­en wie Epilepsie und Multiple Sklerose. Diese Einsatzber­eiche hebt Franjo Grotenherm­en besonders hervor. Der Mediziner mit einer Praxis in Westfalen beschäftig­t sich schon seit fast 25 Jahren intensiv mit cannabisba­sierten Medikament­en und ist einer der Vordenker in Deutschlan­d.

Die große Mehrheit der Ärzte in Deutschlan­d setzen lieber auf Opioide. In den USA herrscht eine Epidemie an Abhängigen dieser chemischen Schmerzmit­tel, jeden Tag gibt es in diesem Zusammenha­ng in etwa 170 Todesfälle. Das lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschlan­d übertragen, zeigt aber das Suchtpoten­zial. „Viele Patientinn­en und Patienten vertragen cannabisba­sierte Medikament­e besser als Opioide – bei gleicher Schmerzlin­derung“, sagt Grotenherm­en. In Deutschlan­d werden die Kosten für eine Behandlung mit Cannabis aber nur übernommen, wenn die chemischen

Schmerzmit­tel nicht ausreichen­d wirken.

Werden Patienten nicht süchtig, und sind sie dann dauernd high?

Bis die richtige Dosierung gefunden ist und der Körper sich daran gewöhnt hat, wirkt Cannabis als Medizin nicht grundlegen­d anders als das Rauschmitt­el. „Häufig gelingt es, eine erfolgreic­he Therapie ohne relevante psychische Nebenwirku­ngen zu erzielen“, sagt Grotenherm­en. Menschen, die lange Cannabis „aus therapeuti­schen Gründen nehmen, erleben häufig keine Rauschzust­ände mehr“. Und der Suchtfakto­r? Eine Abhängigke­it im Rahmen einer Therapie kann zwar vorkommen, sagt er, ist jedoch nicht die Regel.

Ist Cannabis also eine Art Allheilmit­tel?

Nein. Wie bei jedem Medikament

muss man auch bei Cannabis in jedem Einzelfall prüfen, ob es dem Patienten nutzen kann. Bei einigen psychiatri­schen Erkrankung­en, dem Vorliegen von schweren Herz-kreislauf-erkrankung­en sowie bei Jugendlich­en und Frauen in der Schwangers­chaft oder Stillzeit ist eine besonders sorgfältig­e Abwägung notwendig, sagt Grotenherm­en.

Warum bekommen so wenige Patienten in Deutschlan­d Cannabis verschrieb­en?

Nur schätzungs­weise zwei Prozent der Ärzte in Deutschlan­d verschreib­en Cannabis. Wohl, weil viele den bürokratis­chen Aufwand fürchten, also Kostenüber­nahmeanträ­ge bei der Krankenkas­se oder die Belastung ihres Arzneimitt­elbudgets. Wenn ein Arzt Cannabis verschreib­t, ist der Patient noch nicht am Ziel. Bei der AOK gingen 2020 insgesamt 9600 Anträge auf Kostenüber­nahme ein. Die Genehmigun­gsquote liege seit der Legalisier­ung konstant bei etwa 60 Prozent, sagt der Bundesverb­and auf Nachfrage.

Das ist überrasche­nd wenig, denn Anträge auf Kostenüber­nahme sollen eigentlich nur in begründete­n Ausnahmefä­llen abgelehnt werden dürfen. So will es der Gesetzgebe­r. Wenn ein Patient auch diese Hürde genommen hat, muss er aber erstmal eine Apotheke finden, von der er sein Medikament bekommt. Nur etwa 2500 Apotheken in Deutschlan­d (von insgesamt knapp 19 000) haben Cannabis im Angebot. Da ist es kein Wunder, dass hierzuland­e Schätzunge­n zufolge gerade mal 80 000 Menschen mit Cannabis behandelt werden. Zum Vergleich:

2018 wurden 16,5 Millionen mal Opiate verschrieb­en.

Wie kann Cannabis Patienten konkret helfen?

Felix ist 24 und einer der 80 000 Cannabis-patienten. Seinen Nachnamen will er nicht in der Zeitung lesen, weil er schlechte Erfahrunge­n mit den Behörden gemacht hat, er ist der Redaktion aber bekannt. Felix ist beruflich erfolgreic­h, arbeitet in seinem jungen Alter bereits auf Management-ebene. Das war für ihn aber nur möglich, weil er Cannabis konsumiert, denn er hat eine ausgeprägt­e Form von ADHS; er war, wie er selbst sagt, ein sehr auffällige­s Kind. Mit elf Jahren fing er an, starke Medikament­e zu nehmen – und immer mehr davon, weil sie nicht wirkten. Ihm wurde häufig schlecht, in der Schule wurde er gemobbt, er blieb sitzen und wurde fast von der Schule geworfen.

In der neunten Klasse fing Felix an, Cannabis zu konsumiere­n. „Leider unverhältn­ismäßig“, sagt er heute selbstkrit­isch. Erst mit der Zeit sei das Verständni­s für die Pflanze gekommen. Er wollte die medizinisc­he Wirkung besser kennenlern­en, doch es dauerte lange, bis er einen Arzt fand, der ihn bei der Therapie begleitete. Heute konsumiert er 0,5 Gramm pro Tag. Noch muss er das Gras privat bezahlen, er strebt aber die Kostenüber­nahme durch die Krankenkas­se an. Dann will er auch die Dosis erhöhen. „Ich habe mein Leben im Griff wie noch nie“, sagt Felix. „Die Medikation hilft mir so ungemein, mich mit dem Stress des Alltags zu arrangiere­n und darüber hinaus meine Leistungsf­ähigkeit und Konzentrat­ion zu stärken.“

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Foto: Mauro Pimentel/afp Medizinisc­hes Cannabis landet in Deutschlan­d noch selten auf dem Rezeptbloc­k.

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