Kalkulierte Vulkanausbrüche
Pellegrino Matarazzo gilt als ruhig und besonnen, doch energisch und emotional ist der Coach an der Seitenlinie gegen Hoffenheim aufgetreten.
Ein bisschen Jürgen Klopp steckt auch in Pellegrino Matarazzo. Von jenem Klopp, der vierte Offizielle wie in der Geisterbahn erschrecken kann. Weil er voller Adrenalin an der Seitenlinie auf sie zustürmt, nur um ihnen zu sagen, dass der Schiedsrichter auf dem Rasen gerade nicht so gepfiffen hat, wie es sich der Fußballlehrer vorstellt. Klopps Gesichtszüge sind in solchen Momenten nicht die vorteilhaftesten. Und solche Bilder bleiben in Erinnerung, brennen sich in ein kollektives Gedächtnis.
Fairerweise muss man an dieser Stelle jedoch anmerken, dass sich schon seit längerer Zeit keine solchen Szenen mehr mit dem Trainer des FC Liverpool abgespielt haben. Offensichtlich steckt also auch ein bisschen Matarazzo in Klopp. Jenem Matarazzo, der besonnen und ruhig in seiner Coachingzone agieren kann. Nur: Der Trainer des VFB Stuttgart
Es ist nichts Unnormales, wenn ich auch einmal laut werde.
Pellegrino Matarazzo
kann eben auch anders, wenn es um Fußball geht. Die Schiedsrichter und ihre Assistenten in der Bundesliga wissen das nicht erst seit dem Aufstieg in der vergangenen Saison, weil sie die Regelauslegungen des 43-Jährigen regelmäßig zu hören bekommen. Zuletzt Patrick Alt, vierter Offizieller in der Begegnung mit der TSG Hoffenheim (3:1).
Atakan Karazor hatte im Mittelfeld gerade den Ball erobert, als der Unparteiische Harm Osmers ein Foul erkannte, das als Fifty-fifty-entscheidung bezeichnet werden darf. Matarazzo jedenfalls zählte nicht zu den fünfzig Prozent wie Osmers und rannte wütend auf den Assistenten draußen zu, weil er den VFB einer guten Konterchance beraubt sah. Das Gute ist nun, dass sich der Trainer schnell einkriegte. Verstärkt wurde allerdings der Eindruck, dass Matarazzo jetzt viel emotionaler und energischer coacht, als er es vor einem Jahr als Liganovize getan hatte.
Doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn zu Matarazzos Arbeitsweise gehört schon immer der kalkulierte Gefühlsausbruch. Voller Intensität ist er in jedem Spiel dabei – und nicht außen vor. Es wurde anfangs nur nicht gesehen. Matarazzo muss sich weder in der Öffentlichkeit inszenieren, noch vor den Profis aufspielen. „Es ist nichts Unnormales, wenn ich auch einmal laut werde“, hat der Trainer erst kürzlich im Interview erklärt. Er entscheidet situativ und dosiert seine Emotionen, um die Mannschaft
zu steuern. Das klingt dann schon mehr nach dem Mann, den die Vfb-fans seit bald zwei Jahren erleben und der für sie noch immer schwer zu greifen ist. Als freundlichen, gebildeten Herrn mit Bart nimmt der Anhang Matarazzo wahr, der als studierter Mathematiker schnell in der entsprechenden Schublade verschwand und pandemiebedingt für viele eine unbekannte Größe geblieben ist.
Als Taktikexperte gilt er beim VFB, als klarer Analytiker und empathischer Kommunikator. Einer, der Talente entwickeln und Altstars wertschätzen kann. Noch nie hat jemand an der Mercedesstraße vernehmlich über den Chefcoach gebruddelt, wie es hier wohl heißen würde. Matarazzo ist zwar nicht immer der Erste aus dem Trainerstab auf dem Klubgelände, aber häufig der Letzte, der geht. Und Fleiß ist im Schwabenland ja kein Makel, sondern ein Qualitätsmerkmal.
Pellegrino Matarazzo arbeitet jedenfalls sehr detailversessen. Ständig steht er in Sachen Fußball unter Strom und schaltet nur ab, wenn er an freien Tagen zur Familie fährt, die in der Nähe von Heidelberg lebt. Spaziergänge mit seinem Sohn Leopoldo gehören dann zum Entspannungsprogramm, ehe es wieder um das nächste Spiel, den nächsten Gegner seiner Mannschaft und den möglichen nächsten Sieg geht. „Ich mache mir vor allem dadurch selbst Druck, dass unsere Leistung stets passen soll“, sagt der Trainer, „denn wenn die Leistung stimmt, dann ist es nur eine Frage
der Zeit, bis auch die Ergebnisse stimmen.“
Der Erfolg gegen die Hoffenheimer war für Matarazzo die Bestätigung dieser These. Eine mitreißende Begegnung zudem, weil für den VFB nach zuvor fünf Bundesligapartien ohne Sieg viel auf dem Spiel stand und es für den Coach gegen seinen Ex-arbeitgeber ging. Da steckten mutmaßlich mehr Emotionen drin, als Matarazzo im Vorfeld zugeben mochte. Und seit die Zuschauer verstärkt in die Stadien zurückkehren, verdichtet sich wieder die Atmosphäre auf dem Platz – was nach der tristen Coronazeit mit monatelangen Geisterspielen nicht ohne Auswirkungen auf die Spieler und Trainer bleibt. Sie werden zusätzlich gepusht.
Dass Matarazzo einen Wandel vollzieht und sich das leidenschaftliche Stuttgarter Spiel zuletzt vor allem durch das veränderte Engagement am Spielfeldrand erklären lässt, wird aber weder dem Trainer noch dem Team gerecht. Matarazzo ist bei Erfolgen wie Misserfolgen bislang authentisch vorgegangen. Seine Eltern stammen aus Avellino und Salerno im italienischen Kampanien, ganz in der Nähe liegt der Vesuv – und da kann ein Vulkan schon mal ausbrechen.