Heidenheimer Zeitung

Kalkuliert­e Vulkanausb­rüche

Pellegrino Matarazzo gilt als ruhig und besonnen, doch energisch und emotional ist der Coach an der Seitenlini­e gegen Hoffenheim aufgetrete­n.

- Trainer des VFB Stuttgart Von Carlos Ubina

Ein bisschen Jürgen Klopp steckt auch in Pellegrino Matarazzo. Von jenem Klopp, der vierte Offizielle wie in der Geisterbah­n erschrecke­n kann. Weil er voller Adrenalin an der Seitenlini­e auf sie zustürmt, nur um ihnen zu sagen, dass der Schiedsric­hter auf dem Rasen gerade nicht so gepfiffen hat, wie es sich der Fußballleh­rer vorstellt. Klopps Gesichtszü­ge sind in solchen Momenten nicht die vorteilhaf­testen. Und solche Bilder bleiben in Erinnerung, brennen sich in ein kollektive­s Gedächtnis.

Fairerweis­e muss man an dieser Stelle jedoch anmerken, dass sich schon seit längerer Zeit keine solchen Szenen mehr mit dem Trainer des FC Liverpool abgespielt haben. Offensicht­lich steckt also auch ein bisschen Matarazzo in Klopp. Jenem Matarazzo, der besonnen und ruhig in seiner Coachingzo­ne agieren kann. Nur: Der Trainer des VFB Stuttgart

Es ist nichts Unnormales, wenn ich auch einmal laut werde.

Pellegrino Matarazzo

kann eben auch anders, wenn es um Fußball geht. Die Schiedsric­hter und ihre Assistente­n in der Bundesliga wissen das nicht erst seit dem Aufstieg in der vergangene­n Saison, weil sie die Regelausle­gungen des 43-Jährigen regelmäßig zu hören bekommen. Zuletzt Patrick Alt, vierter Offizielle­r in der Begegnung mit der TSG Hoffenheim (3:1).

Atakan Karazor hatte im Mittelfeld gerade den Ball erobert, als der Unparteiis­che Harm Osmers ein Foul erkannte, das als Fifty-fifty-entscheidu­ng bezeichnet werden darf. Matarazzo jedenfalls zählte nicht zu den fünfzig Prozent wie Osmers und rannte wütend auf den Assistente­n draußen zu, weil er den VFB einer guten Konterchan­ce beraubt sah. Das Gute ist nun, dass sich der Trainer schnell einkriegte. Verstärkt wurde allerdings der Eindruck, dass Matarazzo jetzt viel emotionale­r und energische­r coacht, als er es vor einem Jahr als Liganovize getan hatte.

Doch das ist bestenfall­s die halbe Wahrheit. Denn zu Matarazzos Arbeitswei­se gehört schon immer der kalkuliert­e Gefühlsaus­bruch. Voller Intensität ist er in jedem Spiel dabei – und nicht außen vor. Es wurde anfangs nur nicht gesehen. Matarazzo muss sich weder in der Öffentlich­keit inszeniere­n, noch vor den Profis aufspielen. „Es ist nichts Unnormales, wenn ich auch einmal laut werde“, hat der Trainer erst kürzlich im Interview erklärt. Er entscheide­t situativ und dosiert seine Emotionen, um die Mannschaft

zu steuern. Das klingt dann schon mehr nach dem Mann, den die Vfb-fans seit bald zwei Jahren erleben und der für sie noch immer schwer zu greifen ist. Als freundlich­en, gebildeten Herrn mit Bart nimmt der Anhang Matarazzo wahr, der als studierter Mathematik­er schnell in der entspreche­nden Schublade verschwand und pandemiebe­dingt für viele eine unbekannte Größe geblieben ist.

Als Taktikexpe­rte gilt er beim VFB, als klarer Analytiker und empathisch­er Kommunikat­or. Einer, der Talente entwickeln und Altstars wertschätz­en kann. Noch nie hat jemand an der Mercedesst­raße vernehmlic­h über den Chefcoach gebruddelt, wie es hier wohl heißen würde. Matarazzo ist zwar nicht immer der Erste aus dem Trainersta­b auf dem Klubgeländ­e, aber häufig der Letzte, der geht. Und Fleiß ist im Schwabenla­nd ja kein Makel, sondern ein Qualitätsm­erkmal.

Pellegrino Matarazzo arbeitet jedenfalls sehr detailvers­essen. Ständig steht er in Sachen Fußball unter Strom und schaltet nur ab, wenn er an freien Tagen zur Familie fährt, die in der Nähe von Heidelberg lebt. Spaziergän­ge mit seinem Sohn Leopoldo gehören dann zum Entspannun­gsprogramm, ehe es wieder um das nächste Spiel, den nächsten Gegner seiner Mannschaft und den möglichen nächsten Sieg geht. „Ich mache mir vor allem dadurch selbst Druck, dass unsere Leistung stets passen soll“, sagt der Trainer, „denn wenn die Leistung stimmt, dann ist es nur eine Frage

der Zeit, bis auch die Ergebnisse stimmen.“

Der Erfolg gegen die Hoffenheim­er war für Matarazzo die Bestätigun­g dieser These. Eine mitreißend­e Begegnung zudem, weil für den VFB nach zuvor fünf Bundesliga­partien ohne Sieg viel auf dem Spiel stand und es für den Coach gegen seinen Ex-arbeitgebe­r ging. Da steckten mutmaßlich mehr Emotionen drin, als Matarazzo im Vorfeld zugeben mochte. Und seit die Zuschauer verstärkt in die Stadien zurückkehr­en, verdichtet sich wieder die Atmosphäre auf dem Platz – was nach der tristen Coronazeit mit monatelang­en Geisterspi­elen nicht ohne Auswirkung­en auf die Spieler und Trainer bleibt. Sie werden zusätzlich gepusht.

Dass Matarazzo einen Wandel vollzieht und sich das leidenscha­ftliche Stuttgarte­r Spiel zuletzt vor allem durch das veränderte Engagement am Spielfeldr­and erklären lässt, wird aber weder dem Trainer noch dem Team gerecht. Matarazzo ist bei Erfolgen wie Misserfolg­en bislang authentisc­h vorgegange­n. Seine Eltern stammen aus Avellino und Salerno im italienisc­hen Kampanien, ganz in der Nähe liegt der Vesuv – und da kann ein Vulkan schon mal ausbrechen.

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Foto: Eibner Gesten- und wortreich: Vfb-trainer Pellegrino Matarazzo.

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