Umdenken überfällig
Es schwappt derzeit eine heitere Welle der Erleichterung durch Deutschland: immer dann, wenn es um das britische Benzinchaos geht und die leeren Supermarktregale auf der Insel. In den Kommentaren fragt man mitfühlend bis herablassend: Haben wir es euch nicht gesagt, dass Boris Johnson und der Brexit ins Unglück führen werden? Verständlich, aber ungerechtfertigt. Die Häme kommt schließlich aus einem Land, das seine Impfkampagne nicht in den Griff bekommt und dessen Hauptstadt nicht einmal eine Wahl vernünftig organisieren kann.
Klar, die Lage in Großbritannien hat auch mit Johnson und dem Brexit zu tun. Eben weil der Austritt aus der Europäischen Union den Aufenthalt vieler ausländischer Arbeitnehmer unattraktiver machte oder sogar unterband. Doch damit ist das Problem nur sehr oberflächlich beschrieben. In Wahrheit herrschen auch in der Bundesrepublik fast schon britische Verhältnisse, liegen die Ursachen dafür weitaus tiefer – und leider ist die EU auch nicht die Lösung dafür.
400 000 Arbeitnehmer fehlen hierzulande pro Jahr, hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit neulich nüchtern festgestellt. Von der AFD als „Migrationspropaganda“verhetzt, hat der Mann eigentlich nur das getan, was man bei solchen Beobachtungen stets tut: Er hat sich angeschaut, wie viele Menschen in Rente gehen, wie viele neu auf den Arbeitsmarkt drängen und wie hoch der Bedarf ist. Schon heute suchen Handwerksbetriebe, Bauunternehmen, Start-ups, Logistiker und auch die Lkw-branche händeringend nach Arbeitnehmern.
Wenn die derzeit viel gescholtene Generation der Baby-boomer in den Ruhestand tritt, sind Verhältnisse wie in Großbritannien nicht mehr ausgeschlossen. Sie werden sogar real, wenn die deutsche Politik nicht rechtzeitig gegensteuert. Hier kann eine von den Gewerkschaften angemahnte Qualifizierungsoffensive helfen. Jedoch wäre es blauäugig zu denken, damit würde der Bedarf nur annähernd gedeckt. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Viele Langzeitarbeitslose können in den hochspezialisierten Jobs gar nicht bestehen, sei ihre die Qualifikation auch noch so gut. Auch lassen sich die durch die Elektrifizierung
Deutschland muss ein attraktives Einwanderungsland werden.
gefährdeten Arbeitnehmer aus der Automobilindustrie nicht ohne weiteres für jeden benötigten Job umschulen.
Der 60. Jahrestag des Arbeitskräfteabkommens zwischen der Türkei und Deutschland sollte uns daran erinnern, dass es eine solche Situation schon einmal gab und die Politik einen damals beileibe nicht unumstrittenen Kurs wagte. Eine solche Initiative muss nun auch von der neuen Regierung ausgehen, egal, ob sie nun Jamaika, Ampel oder Groko heißen wird.
Das bedeutet aber nichts anderes als einen deutlichen Wechsel in der Migrationspolitik. Deutschland muss ein attraktives Einwanderungsland werden, das sich in einem weltweiten Wettbewerb um Fachkräfte bewähren kann – und es muss auch Asylsuchenden, die sich eine berufliche Qualifikation erarbeitet haben, die Möglichkeit geben, Bundesbürger zu werden.