Vor der sozialen Explosion
Auf der Flucht vor Umweltkatastrophen, Krisen und Gewalt drängen immer mehr Menschen über die Grenze in die USA. Besuch in Tijuana, einer Stadt, in der wie in kaum einer anderen der Pulsschlag der Migrationsbewegung zu spüren ist.
Die Botschaft auf dem blauen Stück Papier, das an der Eingangstüre hängt, ist entmutigend: „Haus voll“ist da zu lesen. Hier im kirchlichen „Haus der Migranten“gibt es einfach keinen Platz mehr, berichtet Pater Pat: „Wir sind überbelegt.“Seit acht Jahren arbeitet der Us-amerikaner nun in Tijuana im Norden Mexikos und engagiert sich im „Casa del Migrante en Tijuana“, wie das Gebäude offiziell heißt. In dieser Zeit hat sich viel geändert.
Fünf Staatschefs hat Pater Pat bislang miterlebt. Barack Obama, Donald Trump und jetzt Joe Biden auf Us-amerikanischer, Enrique Pena Nieto und Andres Manuel Lopez Obrador auf mexikanischer Seite. Fünf Politiker mit anderen Ansätzen bei der Migrationspolitik, aber vielen Versprechen im Gepäck, es anders und besser machen zu wollen als ihre Vorgänger.
Alle Entscheidungen, die in Mexiko-stadt oder in Washington getroffen werden, sind hier, in der Grenzstadt Tijuana, direkt spürbar. Am Pulsschlag zwischen Mexiko und den USA, in einer der gefährlichsten Städte der Welt, in der täglich um Drogenvertriebsrouten gekämpft wird, in der Waffen verschoben und die Ware Mensch gehandelt wird. Von hier aus wird die amerikanische Westküste mit Drogen versorgt. Hier befindet sich einer der meist frequentierten Grenzübergange der Welt. Tausende Fußgänger und Autos gelangen von Tijuana aus täglich von Mexiko in die USA und umgekehrt.
Feindbild Trump fehlt
„Ich habe ein, zwei Jahre gebraucht, um mich in dieser Arbeit zurechtzufinden“, erinnert sich Pater Pat. Seitdem ist er Zeitzeuge der Folgen internationaler Migrationspolitik: „Mal war das Haus voller Haitianer, mal war es voller Honduraner. Dann kamen die Kubaner. Inzwischen haben wir unsere Ausrichtung etwas geändert und kümmern uns vor allem um Flüchtlingsfamilien.“Wenn irgendwo in Lateinamerika eine politische Krise ausbricht, eine Naturkatastrophe die Lebensgrundlage zerstört, Armut, Gewalt und Kriminalität die Menschen zur Flucht zwingen, dann kommen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Flüchtlinge in Tijuana an und klopfen an bei „Padre“Pat. Doch der muss seine Tür verschlossen halten, wenn alle Zimmer belegt sind.
Vor drei Jahren waren die Augen der Welt schon einmal auf die Stadt gerichtet. Damals machte sich eine Karawane von tausenden Menschen aus Mittelamerika in Richtung Norden auf. Irgendwann kamen sie in Tijuana an und lösten ein mediales Erdbeben aus. „Die Stadt war voller Fernsehteams, ich habe jeden Tag
Interviews geben müssen“, erinnert sich Pater Pat. Damals versuchte ein kleiner Teil der Migranten, die Us-grenze zu überrennen und scheiterte am Tränengas und den schier unüberwindlichen Grenzbefestigungen der Amerikaner. Die Bilder gingen um die Welt. Danach ist es ruhiger geworden. Medial. „Wo ist die Presse jetzt?“, fragt Pater Pat. „Die Migranten leiden noch immer. Es kommen immer noch Flüchtlinge an. Jeden Tag. Aber es interessiert sich niemand mehr dafür.“
Mit der Abwahl des rechtspopulistischen Präsidenten Donald Trump wurde auch das Interesse der internationalen Medien am Thema geringer. Dessen Mauerpläne sind hier – auch ganz ohne ihn – schon länger umgesetzt. Gewaltige Eisenkonstruktionen, die die USA und Mexiko voneinander trennen. Auch die Aktivitäten der Nichtregierungsorganisationen nahmen ab. Ohne das Feindbild Trump lässt sich das nicht mehr vermarkten, sagt die Flüchtlingshelferin Rosario. Sie ist bitter enttäuscht von vielen Organisationen, die immer nur dann kämen, wenn die Tv-sender ihre Scheinwerfer aufstellten.
Ein kleiner, aber sehr engagierter Teil von kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Gruppen ist geblieben. Es sind die Helfer, die schon vor Trump da waren und nach Biden noch da sein werden. Sie werden aktuell Zeugen davon, dass sich in Tijuana, Ciudad Juarez und anderen nordmexikanischen Städten wieder etwas zusammenbraut. Denn der Strom der Flüchtlinge reißt nicht ab. Im Gegenteil: Die Krisen in Lateinamerika nehmen weiter zu. Bis Anfang 2022 könnte sich die Zahl der aus Venezuela geflohenen Menschen auf sieben Millionen erhöht haben, aus politischen Krisenherden wie Kuba und Nicaragua nimmt die Zahl der Migranten ebenfalls zu. Zwei verheerende Tropenstürme haben im vergangenen Jahr weite Teile von Honduras, Guatemala und El Salvador zerstört, auch das führt zu einer vermehrten Migration von Klimawandel-opfern.
Obendrein machen sich aus dem von politischen Unruhen und Erdbeben erschütterten Haiti weitere zehntausende Menschen auf in Richtung USA. Weiter östlich in Del Rio zwischen Texas und Mexiko versuchten jüngst Tausende Haitianer über den Grenzfluss Rio Bravo zu kommen, wurden zunächst von brutal zupackenden berittenen Grenzpolizisten zurückgeschlagen und inzwischen abgeschoben. Erstmals wurde die Krise an der Grenze damit auch in der Amtszeit von Joe Biden präsent.
Die Mexikaner blicken außerdem mit großer Sorge nach Kolumbien. Seit Wochen sammeln sich hier in Necoli zehntausende Migranten überwiegend aus Haiti und wollen von dort aus in Richtung Mittelamerika. Es deutet sich eine neue Migrationsachse an. Irgendwann, wenn sie die lebensgefährliche Route durch Mittelamerika und Mexiko denn überstehen, landen die Menschen auch in Tijuana.
Hier sind sie immer noch in höchster Gefahr. Denn mexikanische Drogenkartelle rekrutieren sie für ihre Dienste: Mädchen und Frauen landen in der Zwangsprostitution, andere sollen mit Schleppern Drogen über die Grenze bringen. Wer sich weigert, wird erschossen. Jeden Tag kann das Leben zu Ende sein, jeder Tag ist eine schmale Gratwanderung zwischen Überleben, Hoffnung und Tod. Die Gewalt gegen Migranten nimmt schier unfassbare Ausmaße an: Jüngst starben an der Grenze 16 Migranten aus Guatemala in zwei niedergebrannten Autos, erschossen von bewaffneten Gangstern im Auftrag der Mafia. Sie hatten sich wohl für konkurrierende Schlepper entschieden. Ihr Todesurteil.
Ungern sprechen die mexikanischen Behörden über wachsende Flüchtlingsbewegungen aus dem eigenen Land. Auch die sind inzwischen in Tijuana angekommen. „Das sind die Opfer der Kämpfe rivalisierender Drogenbanden im Inneren Mexikos“, sagt Pater Pat und verweist auf die in der Stadt wachsenden Flüchtlingslager.
Allein ein Blick auf die aktuelle Lage in Honduras reicht derweil aus, um zu verstehen, dass die Amerikaner und Mexikaner sich auf eine neue Flüchtlingsbewegung einstellen müssen. Rund vier Millionen Menschen sind in Honduras laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) von einer Ernährungskrise bedroht. Das ist rund ein Drittel der honduranischen Bevölkerung. Honduras zählt zu den mittelamerikanischen Ländern, aus denen derzeit die meisten Flüchtlinge versuchen, in Richtung USA zu gelangen. Rund 40 Prozent der über 60 000 Asylanträge, die in Mexiko zwischen Januar und Juli eingegangen sind, stammen von honduranischen Staatsbürgern. Dort stranden die Flüchtlinge, weil ihre Asylanträge in den USA nur wenig Aussicht auf Erfolg haben – viele von ihnen bleiben deshalb in Tijuana oder werden aus Mexiko oder den USA in ihre Heimat abgeschoben. Und starten dann aufs Neue.
Appelle stoßen auf taube Ohren
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat deswegen die internationale Staatengemeinschaft zu mehr Unterstützung für Mittelamerika aufgerufen, das Opfer der verheerenden Wirbelstürme im vergangenen Jahr geworden ist. „Es ist die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und von uns allen, diesen Menschen zu helfen, um ihr Leben wieder aufzubauen“, sagte die stellvertretende Un-hochkommissarin für Flüchtlinge, Kelly T. Clements, nach einem Besuch in der Region. Noch nie sei die Notwendigkeit für eine größere finanzielle und technische Unterstützung der Regierungen und Organisationen, die gemeinsam für die Flüchtlinge arbeiteten, so groß gewesen wie jetzt.
Die USA versuchen derweil, die Menschen von der Flucht abzuhalten. Fast schon hilflos war der Aufruf von Us-vizepräsidentin Kamala Harris bei einem Besuch in Guatemala vor einigen Wochen. „Kommen Sie nicht“, rief Harris die Mittelamerikaner auf. Sie verspricht Wirtschaftshilfe und Investitionen, die die Region mittelfristig stabilisieren und den Menschen eine Perspektive verschaffen sollen.
Doch das stößt bei jenen, die unter Hunger, Armut, Gewalt, Naturkatastrophen und Kriminalität leiden, auf taube Ohren: „Der Druck, unter dem diese Menschen stehen, ist so enorm, dass dieser Appell ungehört verhallen wird“, sagt Pater Pat. „Sie glauben, dass sie trotzdem irgendwie rüberkommen. Dass sie eine Ausnahme sind.“
In Tijuana wächst derweil der Druck auf die Behörden weiter. Weil notdürftig aufgeschlagene Flüchtlingscamps weiterwachsen, die normalen Migrantenherbergen längst überfüllt sind, sollen nun neue Unterkünfte gefunden werden. Es droht eine soziale Explosion.
Es kommen immer noch Flüchtlinge an. Jeden Tag. Aber es interessiert sich niemand mehr dafür. Pater Pat
Leiter Flüchtlingsheim Tijuana