Heidenheimer Zeitung

„Das ist der Bevölkerun­g nicht vermittelb­ar“

Der Präsident des Gemeindeta­gs Baden-württember­g, Steffen Jäger, über die Probleme der Kommunen beim Kita-ausbau und die Finanzieru­ng der vom Land versproche­nen Mobilitäts­garantie.

- Von Roland Muschel

Von der Geschäftss­telle des Gemeindeta­gs in der Stuttgarte­r Panoramstr­aße aus hat Steffen Jäger, 42, einen wunderbare­n Blick auf die Kräne rund um den Hauptbahnh­of. Als Präsident des Gemeindeta­gs hat er indes wenig Zeit, den Ausblick zu genießen – zu viele Baustellen fordern die Kommunen. Ein Gespräch über die Verspreche­n der großen Politik und die Nöte, die Städte und Gemeinden damit haben.

Viele Eltern beklagen einen Mangel an Kita-plätzen und diejenigen, die einen haben, wünschen sich mehr Verlässlic­hkeit bei Betreuungs­zeiten. Wie nehmen Sie die Lage wahr? Steffen Jäger:

Wir haben in Badenwürtt­emberg seit 2011 die Zahl der Facharbeit­skräfte verdoppelt und die Zahl der Kita-plätze um mehrere Zehntausen­d erhöht. Heute geben die Städte und Gemeinde zweieinhal­b Mal so viel für die frühkindli­che Bildung aus wie noch vor zehn Jahren. Trotz dieses Marathonla­ufs können wir im Moment in der Fläche nicht gewährleis­ten, dass jeder Betreuungs­bedarf gedeckt werden kann.

Woran liegt das?

Entgegen früheren Prognosen sind die Geburtenza­hlen in den vergangene­n Jahren gestiegen – und mit ihnen der Bedarf. Der leergefegt­e Fachkräfte­markt hat das Problem verschärft, Corona die Lage weiter zugespitzt. Die Folge ist, dass wir derzeit sogar Probleme haben, neugebaute Plätze in Betrieb zu nehmen. Es fehlt schlicht das Personal. Trotzdem findet die Kinderbetr­euung in Baden-württember­g weiter auf sehr hohem Niveau statt. Wir müssen uns aber die Frage stellen, wie wir dem Bedarf gerecht werden können.

Haben Sie eine Antwort?

Wenn wir verhindern wollen, dass wir einer nennenswer­ten Anzahl an Kindern keinen Platz bieten können, müssen wir mit dem vorhandene­n Fachperson­al mehr Kinder betreuen.

Sie plädieren für größere Gruppen?

Größere Gruppen wären eine Möglichkei­t. Eine andere wäre eine stärkere Unterstütz­ung der Fachkräfte durch Zusatzpers­onal. Die Politik muss hier eine Entscheidu­ng treffen. Die schwierige­n Rahmenbedi­ngungen erfordern jedenfalls eine Abweichung von den Standards. Das kann aber nur eine Zwischenlö­sung sein, um in einer angespannt­en Lage die Betreuungs­garantie erfüllen zu können.

Wäre eine bessere Bezahlung nicht die bessere Lösung?

Die Bezahlung der frühkindli­chen Pädagoginn­en und Pädagogen hat sich in den letzten Jahren überdurchs­chnittlich entwickelt. Wir müssen das Berufsbild sicher attraktiv halten, auch finanziell. Aber wir müssen auch erkennen, dass der Markt für Facharbeit­skräfte begrenzt ist.

Was erwarten Sie von Bund und Land?

Seit es den Rechtsansp­ruch für Kleinkindb­etreuung gibt, gibt es ein Investitio­nsförderpr­ogramm des Bundes für die kommunalen Träger. Nur: Dieses Programm ist überzeichn­et, die Nachfrage übersteigt die Mittel bei weitem. Darauf brauchen wir eine Antwort, sonst gerät der notwendige Ausbau der U3-plätze ins Stocken. Durch die gesteigert­en Geburtenza­hlen haben wir mittlerwei­le auch im Bereich der Dreibis Sechsjähri­gen Druck, Plätze auszubauen. Wir brauchen daher ein neues Förderprog­ramm, idealerwei­se in Höhe von 150 Millionen Euro pro Jahr. Nur so können wir den gesellscha­ftlich gewünschte­n Ausbau bewerkstel­ligen.

Erst vor kurzem hat der Bundesrat dem Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung für Grundschül­er zugestimmt. Das stößt bei vielen Eltern auf Begeisteru­ng, bei den Kommunen nicht. Warum?

Wir können die Begeisteru­ng in der Tat nicht teilen. Nur weil ein Ziel per Gesetz festgeschr­ieben wird, ist noch lange nicht gewährleis­tet, dass es auch erreicht wird. Allein in Baden-württember­g wird dieses Gesetz jährlich einen hohen dreistelli­gen Millionenb­etrag

an Betriebsko­sten auslösen. Bisher ist weder eine auskömmlic­he Finanzieru­ng geklärt noch die Frage, wie das personell gestemmt werden soll. Im Gegenteil: Wir befürchten, dass sich nun Kitas und Grundschul­en auf dem ohnehin angespannt­en Markt für Facharbeit­skräfte Konkurrenz machen. Die Personalno­t droht dadurch noch größer zu werden.

Der Rechtsansp­ruch ist beschlosse­n, wie realistisc­h ist die Umsetzung bis 2026?

Wir kommen leider immer öfter in die Situation, dass die große Politik Dinge verspricht, die die Kommunen umsetzen müssen, ohne dafür die notwendige­n Mittel und Instrument­e an die Hand zu kriegen. Wir müssen in Badenwürtt­emberg die Sorge haben, dass der Rechtsansp­ruch die Vielzahl der vorhandene­n schulträge­rbezogenen Angebote nicht berücksich­tigt. Schlimmste­nfalls würde das das Aus für die freiwillig­en, ehrenamtli­chen Kooperatio­nsangebote, etwa von Sportoder Musikverei­nen, an den Grundschul­en bedeuten.

Der Koalitions­vertrag sieht eine „Mobilitäts­garantie“vor, wonach der ÖPNV alle Gemeinden von 5 bis 24 Uhr in mindestens halbstündi­gen Takten bedienen soll. Wie realistisc­h ist die Umsetzung bis 2026?

Wir brauchen auch im Verkehrsse­ktor eine gelingende Klimawende. Der Ausbau des öffentlich­en Personenna­hverkehrs ist daher richtig. Nach dem Koalitions­vertrag soll dies über eine solche Mobilitäts­garantie umgesetzt werden. Ob das in jedem Landesteil

tatsächlic­h so erfolgreic­h sein wird, würde ich mit einem kleinen Fragenzeic­hen versehen. Die Mobilität im ländlichen Raum ist bislang nur sehr beschränkt auf den ÖPNV ausgericht­et. Möglicherw­eise kommt man in der Fläche über Bestell-angebote besser voran als über eine pauschale Ausweitung des Fahrplanan­gebots. Eines ist für uns klar: Wenn das Land, wie im Koalitions­vertrag vorgezeich­net, einen Mindestbed­ien-standard fürs ganze Land vorgibt, muss es ihn auch auskömmlic­h finanziere­n.

Im Koalitions­vertrag ist dafür die Einführung eines kommunalen, kostenpfli­chtigen „Mobilitäts­passes“für alle Bürger vorgesehen.

Wenn das Land will, dass ein Angebot überall gleicherma­ßen vorgehalte­n werden soll, muss es auch überall gleich finanziert werden. Der Mobilitäts­pass darf daher nicht zur Grundfinan­zierung der Mobilitäts­garantie herangezog­en werden. Denn in vielen urbanen Räumen wird die Mobilitäts­garantie bereits erfüllt, der Mobilitäts­pass wäre dafür gar nicht notwendig. In vielen ländlichen Räumen aber müssten die Bürger immens belastet werden – für ein Angebot, das möglichwei­se gar nicht so genutzt wird. Das ist der Bevölkerun­g nicht vermittelb­ar.

Kommen die Kommunen

2022 ohne Gebührener­höhungen oder Leistungse­inschränku­ngen aus?

Oder hängt das vom Ergebnis der Finanzverh­andlungen mit dem Land ab?

Land und Kommunen haben es in der Pandemie schon zweimal geschafft, für die Gesellscha­ft gute Vereinbaru­ngen zu treffen. Insbesonde­re Städte und Gemeinden, die nicht steuerstar­k aufgestell­t sind, waren und sind darauf angewiesen, um handlungsf­ähig zu bleiben. Wir benötigen aber auch Spielräume für Zukunftsth­emen wie Digitalisi­erung oder Klimaschut­z. Klar ist, dass die Kommunen angesichts einer Einnahmesi­tuation, die noch länger hinter den mittelfris­tigen Planungen liegen dürfte, nicht alle Erwartunge­n sofort erfüllen können. Und da würde ich darauf hoffen, dass in einer gemeinsame­n Priorisier­ung zwischen Land und kommunaler Ebene dann auch klar festlegt wird, was man von den Städten und Gemeinden noch nicht erwartet.

Der leergefegt­e Markt für Fachkräfte hat das Problem verschärft.

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Foto: Daniel Naupold/ dpa Der Rechtsansp­ruch auf Betreuung bedeutet nicht, dass er auch immer umgesetzt werden kann.
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