Indizienkette immer dünner
Gegen den angeblichen Paketbomber aus Ulm besteht kein dringender Verdacht mehr. Wurde der falsche Mann angeklagt?
Paukenschlag im Prozess gegen den angeblichen Paketbomber aus Ulm vor dem Heidelberger Landgericht: Der Mann, der sich wegen des Versendens explosiver Post an süddeutsche Lebensmittelfirmen verantworten muss, befindet sich wieder auf freiem Fuß. Das bestätigte das Gericht am Dienstag. Offensichtlich besteht kein dringender Tatverdacht mehr. Der Prozess ist damit aber nicht geplatzt. Schon an diesem Freitag soll die Verhandlung weitergehen. In der kommenden Woche soll es dann um Gutachten gehen, die zur Entlassung des 66-jährigen Rentners aus der Untersuchungshaft geführt haben. Dieser hat die Tat von vornherein bestritten.
Dem Gericht zufolge haben neue Erkenntnisse aus Gutachten zu der Neubewertung geführt. Dies sei auch Gegenstand der Verhandlungstermine in der kommenden Woche, sagte eine Sprecherin. Ein Urteil sei Mitte November zu erwarten. Die Kammer habe die Gutachten parallel zur Hauptverhandlung eingeholt. Nun gelte es, diese zu verlesen und Sachverständige zu hören, ebenso weitere Zeugen. Der Angeklagte werde dem allem beiwohnen, „nur kommt er eben von daheim“.
Jörg Becker, einer seiner zwei Verteidiger, bestätigt das. „Das Verfahren ist noch nicht im Sinne des Angeklagten entschieden. Er ist freigelassen, nicht freigesprochen“, sagte er auf Anfrage. Allerdings betonte er, dass die Anklage „von Anfang an auf tönernen Füßen stand“.
Der Rentner und frühere Elektroinstallateur
Klaus S. soll laut Staatsanwaltschaft am 15. Februar in einer Ulmer Postfiliale drei Päckchen mit selbst gebastelten Sprengsätzen aufgegeben haben – zwei davon detonierten an den beiden Folgetagen. Bei ADM Wild in Eppelheim und beim Lidl-konzern in Neckarsulm wurden mehrere Mitarbeiter verletzt.
Der Paketbomber war in der Postfiliale gefilmt worden, allerdings vermummt mit Schiebermütze, Brille, Corona-schutzmaske und Schal um den Hals. An einem der letzten Verhandlungstage haben die Anwälte erfolgreich beantragt, einen Professor für Anthropologie an der Universität Ulm als Gutachter zu laden. Der Experte könne unter anderem beweisen, dass der Kopfumfang und die hängende Schulter von Klaus S. nicht zu dem Mann auf dem Video der Überwachungskamera passe.
Inzwischen liegt die Stellungnahme auch dem Gericht vor. „Das Gutachten zeigt, dass der Mann auf dem Video mit großer Wahrscheinlichkeit nicht unser Mandant sein kann“, sagt Becker. Deshalb sei der Haftbefehl außer Kraft gesetzt worden.
Der bisherige Verlauf zeigt, wie brüchig die Indizienkette der Ermittler ist. So ziehen laut Becker zwei noch nicht gehörte Gutachter die „Mantrail“-ergebnisse des Landeskriminalamts (LKA) in Zweifel. Die Behörde hatte einen privaten Hundebesitzer engagiert und dessen Tier eine Geruchsprobe von einem der Päckchen vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt habe die Tat aber bereits sechs Wochen zurückgelegen, erklärt der Anwalt. Becker fragt sich auch, warum
das LKA seiner „Super-recognizerin“– eine Beamtin mit dem Talent, sich Gesichter besonders gut einzuprägen – nur Aufnahmen von Klaus S. gezeigt hat, und nicht, wie üblich, „von mehreren älteren Herrn“, so Becker.
Die Ermittler waren davon ausgegangen, dass die „Spezialpäckchen“aus besonderem Material, in denen die Bomben abgeschickt wurden, nicht im Handel erhältlich sind. 16 Exemplare wurden bei Klaus S. gefunden. „Vom gleichen Typ“, wie Becker sagt, „aber mit unterschiedlichem Produktionsdesign“.
In vier der Päckchen soll der Angeklagte Modell-busse, die er leidenschaftlich sammle, verschickt haben, sagt der Anwalt. Konkret: von der Postfiliale im Ulmer Stadtteil Wiblingen, wo Klaus S. im eigenen Häuschen wohnt.
Das Geschäft, in der die explosive Post abgegeben wurde, befindet sich dagegen im Zentrum der Donaustadt. Ein Mitarbeiter dieser Filiale hatte vor Gericht den Paketbomber auf 1,80 Meter geschätzt, Klaus S. ist deutlich kleiner. Becker und Lindberg fanden zudem heraus, dass die Päckchen sehr wohl auch im Einzelhandel zu erstehen waren. Mehr als 30 000 Exemplare gingen alleine bis zu den Anschlägen über den Ladentisch. Und ein Motiv haben die Ermittler bei Klaus S. auch noch nicht gefunden, nur ein fehlendes Alibi.
Thomas Bischoff, Sprecher der Staatsanwaltschaft Heidelberg, wollte den Beschluss des Gerichts, den Haftbefehl aufzuheben, „aus Respekt vor dem laufenden Verfahren und dem Gericht“nicht kommentieren. Dass die Staatsanwaltschaft in dem Fall womöglich unter zu hohem Ermittlungsdruck gestanden und deswegen vorschnell agiert habe, weist er indes von sich. Die Frage, ob Anklage zu erheben sei oder nicht, folge gesetzlichen Vorgaben, erklärte Bischoff. „Auch öffentlicher Druck darf die Staatsanwaltschaft nicht davon abhalten, nach diesen Kriterien zu entscheiden.“Zudem stellte er klar: „Die Untersuchungshaft ist nicht nur von einem Gericht beendet, sondern auch angeordnet worden.“
Der Mann auf dem Video ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht unser Mandant. Jörg Becker
Verteidiger des Angeklagten