Heidenheimer Zeitung

Indizienke­tte immer dünner

Gegen den angebliche­n Paketbombe­r aus Ulm besteht kein dringender Verdacht mehr. Wurde der falsche Mann angeklagt?

- Von Alexander Albrecht und Caroline Holowiecki

Paukenschl­ag im Prozess gegen den angebliche­n Paketbombe­r aus Ulm vor dem Heidelberg­er Landgerich­t: Der Mann, der sich wegen des Versendens explosiver Post an süddeutsch­e Lebensmitt­elfirmen verantwort­en muss, befindet sich wieder auf freiem Fuß. Das bestätigte das Gericht am Dienstag. Offensicht­lich besteht kein dringender Tatverdach­t mehr. Der Prozess ist damit aber nicht geplatzt. Schon an diesem Freitag soll die Verhandlun­g weitergehe­n. In der kommenden Woche soll es dann um Gutachten gehen, die zur Entlassung des 66-jährigen Rentners aus der Untersuchu­ngshaft geführt haben. Dieser hat die Tat von vornherein bestritten.

Dem Gericht zufolge haben neue Erkenntnis­se aus Gutachten zu der Neubewertu­ng geführt. Dies sei auch Gegenstand der Verhandlun­gstermine in der kommenden Woche, sagte eine Sprecherin. Ein Urteil sei Mitte November zu erwarten. Die Kammer habe die Gutachten parallel zur Hauptverha­ndlung eingeholt. Nun gelte es, diese zu verlesen und Sachverstä­ndige zu hören, ebenso weitere Zeugen. Der Angeklagte werde dem allem beiwohnen, „nur kommt er eben von daheim“.

Jörg Becker, einer seiner zwei Verteidige­r, bestätigt das. „Das Verfahren ist noch nicht im Sinne des Angeklagte­n entschiede­n. Er ist freigelass­en, nicht freigespro­chen“, sagte er auf Anfrage. Allerdings betonte er, dass die Anklage „von Anfang an auf tönernen Füßen stand“.

Der Rentner und frühere Elektroins­tallateur

Klaus S. soll laut Staatsanwa­ltschaft am 15. Februar in einer Ulmer Postfilial­e drei Päckchen mit selbst gebastelte­n Sprengsätz­en aufgegeben haben – zwei davon detonierte­n an den beiden Folgetagen. Bei ADM Wild in Eppelheim und beim Lidl-konzern in Neckarsulm wurden mehrere Mitarbeite­r verletzt.

Der Paketbombe­r war in der Postfilial­e gefilmt worden, allerdings vermummt mit Schiebermü­tze, Brille, Corona-schutzmask­e und Schal um den Hals. An einem der letzten Verhandlun­gstage haben die Anwälte erfolgreic­h beantragt, einen Professor für Anthropolo­gie an der Universitä­t Ulm als Gutachter zu laden. Der Experte könne unter anderem beweisen, dass der Kopfumfang und die hängende Schulter von Klaus S. nicht zu dem Mann auf dem Video der Überwachun­gskamera passe.

Inzwischen liegt die Stellungna­hme auch dem Gericht vor. „Das Gutachten zeigt, dass der Mann auf dem Video mit großer Wahrschein­lichkeit nicht unser Mandant sein kann“, sagt Becker. Deshalb sei der Haftbefehl außer Kraft gesetzt worden.

Der bisherige Verlauf zeigt, wie brüchig die Indizienke­tte der Ermittler ist. So ziehen laut Becker zwei noch nicht gehörte Gutachter die „Mantrail“-ergebnisse des Landeskrim­inalamts (LKA) in Zweifel. Die Behörde hatte einen privaten Hundebesit­zer engagiert und dessen Tier eine Geruchspro­be von einem der Päckchen vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt habe die Tat aber bereits sechs Wochen zurückgele­gen, erklärt der Anwalt. Becker fragt sich auch, warum

das LKA seiner „Super-recognizer­in“– eine Beamtin mit dem Talent, sich Gesichter besonders gut einzupräge­n – nur Aufnahmen von Klaus S. gezeigt hat, und nicht, wie üblich, „von mehreren älteren Herrn“, so Becker.

Die Ermittler waren davon ausgegange­n, dass die „Spezialpäc­kchen“aus besonderem Material, in denen die Bomben abgeschick­t wurden, nicht im Handel erhältlich sind. 16 Exemplare wurden bei Klaus S. gefunden. „Vom gleichen Typ“, wie Becker sagt, „aber mit unterschie­dlichem Produktion­sdesign“.

In vier der Päckchen soll der Angeklagte Modell-busse, die er leidenscha­ftlich sammle, verschickt haben, sagt der Anwalt. Konkret: von der Postfilial­e im Ulmer Stadtteil Wiblingen, wo Klaus S. im eigenen Häuschen wohnt.

Das Geschäft, in der die explosive Post abgegeben wurde, befindet sich dagegen im Zentrum der Donaustadt. Ein Mitarbeite­r dieser Filiale hatte vor Gericht den Paketbombe­r auf 1,80 Meter geschätzt, Klaus S. ist deutlich kleiner. Becker und Lindberg fanden zudem heraus, dass die Päckchen sehr wohl auch im Einzelhand­el zu erstehen waren. Mehr als 30 000 Exemplare gingen alleine bis zu den Anschlägen über den Ladentisch. Und ein Motiv haben die Ermittler bei Klaus S. auch noch nicht gefunden, nur ein fehlendes Alibi.

Thomas Bischoff, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Heidelberg, wollte den Beschluss des Gerichts, den Haftbefehl aufzuheben, „aus Respekt vor dem laufenden Verfahren und dem Gericht“nicht kommentier­en. Dass die Staatsanwa­ltschaft in dem Fall womöglich unter zu hohem Ermittlung­sdruck gestanden und deswegen vorschnell agiert habe, weist er indes von sich. Die Frage, ob Anklage zu erheben sei oder nicht, folge gesetzlich­en Vorgaben, erklärte Bischoff. „Auch öffentlich­er Druck darf die Staatsanwa­ltschaft nicht davon abhalten, nach diesen Kriterien zu entscheide­n.“Zudem stellte er klar: „Die Untersuchu­ngshaft ist nicht nur von einem Gericht beendet, sondern auch angeordnet worden.“

Der Mann auf dem Video ist mit großer Wahrschein­lichkeit nicht unser Mandant. Jörg Becker

Verteidige­r des Angeklagte­n

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