Heißer Draht zu Menschen in Not
Nicht nur während der Pandemie stark gefragt. Ängste und Einsamkeit belasten Anrufer.
Stuttgart. Einsamkeit und immer wieder Einsamkeit. „Wie Mehltau liegt die Angst davor über der Gesellschaft“, sagt Gregor Bergdolt, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Telefonseelsorge (TS). Vor allem während der Corona-pandemie hat diese Angst Menschen niedergedrückt: Junge, die keinen Kontakt zu Mitstudierenden knüpfen konnten, und Ältere, die ihr Leben als Single eigentlich gut organisiert hatten. Bis sie die Pandemie in die häusliche Isolation zwang. Die 1070 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge in Baden-württemberg haben das hautnah erfahren. Ihr Zuhören war gefragt. Um rund 20
Prozent schnellte die Zahl der Anrufe an den 13 Standorten der Telefonseelsorge im Land während der ersten Monate der Pandemie in die Höhe.
In Zahlen ausgedrückt: 125 000 Stunden haben die Mitarbeiter der TS mit Anrufern gesprochen. Viele Stunden kommunizierten sie per Mail oder per Chat. Oft ging es um Depressionen, um Ängste und immer wieder um Suizidgedanken. „Es gab Nächte, an denen ich mit fünf bis sechs jungen Frauen gesprochen habe, die nicht mehr weiterleben wollten,“sagt die ehrenamtliche Telefonseelsorgerin Anja, die aus Gründen der Anonymität nicht mehr zu ihrer Person sagt.
Die evangelischen Kirchen in Baden und Württemberg sowie die katholischen Diözesen in Freiburg und Rottenburg finanzieren den Dienst mit 2,4 Millionen Euro im Jahr. Das Angebot ist gefragt. Nicht nur während der Pandemie.
Jugendliche, die nach ihrem Platz in der Gesellschaft suchen, rufen an. Ältere, die mit dem Übergang in den Ruhestand und den damit verbundenen Statusverlust nicht zurecht kommen, psychisch Belastete, die auf einen Therapieplatz warten oder aus einer Psychiatrie entlassen wurden und nun nicht wissen, wie sie in Freiheit zurecht kommen sollen, Frauen, denen die Anforderungen von Familie und Beruf über den
Kopf gewachsen sind. Oder Kranke, die eine schwierige Diagnose verkraften müssen. Dass Telefonseelsorger mitfühlen, aber emotional nicht so verstrickt sind wie Angehörige, hilft Anrufern offen zu sprechen. „Als Ehrenamtliche erhalten wir einen großen Vertrauensbeweis“, betont Anja.
Anrufen kann jeder. „Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar“, sagt Martina Rudolf-zeller, Leiterin der Evagelischen TS Stuttgart. „Auch an Silvester oder während eines Endspiels bei einer Fußball-weltmeisterschaft.“
Möglich ist das, weil die TS von vielen Freiwilligen getragen wird. Ein bis zwei Jahre dauert die Ausbildung eines Telefonseelsorgers. Supervisionen und Fortbildungen begleiten anschließend die Tätigkeit. Der Aufwand ist groß, die Einsatzbereitschaft aber auch. Wer einmal Feuer gefangen hat, bleibt in der Regel viele Jahre dabei. So wie Anja. 2013 hat sie ihre Ausbildung begonnen. Ans Aufhören denkt sie noch lange nicht.
Ehrenamtliche erhalten großen Vertrauensbeweis.
Anja Telefonseelsorgerin