Angst vor dem Unterricht
Kann man Schule verlernen? Ja, sagen Psychologen. Manche Jugendliche finden nur schwer aus der Zwangspause zurück. Sie leiden auch körperlich.
Es wird dauern, bis wieder Normalität in die Schulklassen einkehrt. Zwar werden seit Ende der Sommerferien Kinder wieder vor Ort in den Schulen unterrichtet. Doch die coronabedingte Zwangspause ist damit nicht einfach überwunden. Noch ist gar nicht absehbar, welche Folgen die monatelange Phase des Homeschooling hat, in der Kinder und Jugendliche nur wenig Kontakt mit Gleichaltrigen pflegen konnten und sie beim Lernen auf Eigendisziplin, oft die Unterstützung der Eltern und eine gute Computerausstattung zu Hause angewiesen waren. „Die Pandemie hat die Schere in den Schulklassen weiter geöffnet“, bilanziert Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in Ulm.
Während Mittel- und Oberschichtskinder vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen sind, sind andere gestrauchelt. „Denen, die vor der Pandemie schon zu kämpfen hatten, geht es jetzt oft richtig schlecht“, betont Fegert. Gemeint sind damit nicht nur Lerndefizite, die sich in ersten Schul-tests bereits zeigen. Es geht um psychische Nöte.
„Wir registrieren deutlich mehr Schüler, die eine Angst vor dem Unterricht und vor ihren Klassengemeinschaften entwickelt haben“, beschreibt Johanna Fischer, Schulpsychologin in Ulm. Nach Monaten reduzierter Sozialkontakte müssten sich Jugendliche jetzt wieder anderen aussetzen und sich messen lassen. Das verunsichere und bringe manche Kinder an Grenzen. Die Überforderung zeigt sich nicht selten durch körperliche Symptome. So wenden sich inzwischen deutlich mehr Eltern an Beratungsstellen, deren Kinder über morgendliche Bauchkrämpfe und Übelkeit klagen. Auch von Essund Schlafstörungen berichten Eltern. Und über anhaltende Traurigkeit und soziale Abkapselung, bis hin zu Selbstmordgedanken ihrer Kinder.
„Wir haben eine richtige Anfragewelle“, sagt Johanna Fischer. Dabei treffen bei den Beratungsstellen derzeit „nur“die Anrufe besorgter Eltern ein. Rückmeldungen von Lehrern über auffällige Schüler, die in der Stresszeit der Pandemie möglicherweise Gewalt oder Missbrauch erlebt haben, gab es in den vergangenen Monaten nicht. Deshalb ist sich Fegert sicher: „Wir haben den Gipfel der Probleme noch nicht erreicht.“
„Manche Kinder haben Schule verlernt“, sagt Corinna Ehlert, Schulpychologin und Fachbereichsleiterin am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-württemberg. Einigen Kindern und Jugendlichen falle es schwer, „in schulische Strukturen zurückzufinden“. Das frühe Aufstehen, der eng getaktete Schulalltag, die hohe Lautstärke, Nachmittagsunterricht und Hausaufgaben belasten sie. Zumal die Leistungs- und Aufmerksamkeitsspanne nicht weniger während der vergangenen Monate deutlich abgenommen hat. Die Überforderung
zeigt sich nicht selten in Gereiztheit, Aggressivität und Wut.
Waren vor der Pandemie knapp 20 Prozent der Schüler verhaltensauffällig, seien es jetzt rund 30 Prozent, sagt Jörg Fegert. Darauf weist auch eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-eppendorf. Fegert kritisiert, dass die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der öffentlichen Wahrnehmung zu lange keine Rolle gespielt hat.
Belastet sind Jugendliche aus allen Altersgruppen und allen Schularten. Vor allem für die ganz Kleinen, die vom Kindergarten in die Schule, oder ältere, die während der Pandemie auf eine weiterführende Schule beziehungsweise in die Berufsschule wechselten, waren die Monate ohne Präsenzunterricht hart. Klassengemeinschaften konnten sich nicht bilden, neue Alltagsrhythmen nicht eingeübt werden.
Fegert ist deshalb überzeugt: „Es braucht nicht nur ein Aufholprogramm für das Kognitive sondern auch für das Emotionale.“Sich jetzt nur auf den versäumten Unterrichtsstoff zu konzentrieren, hält der Psychologe für falsch. Er rät: Bei Lehrplänen den Ehrgeiz abzulegen und Basics zu vermitteln, wie die Befähigung zum Lernen. „Wir müssen Kindern beibringen, Lücken zu benennen und sich nicht für diese Lücken zu schämen“, sagt der Psychologe. Dann könnten Defizite und Selbstzweifel, die die Pandemie hinterlassen hat, überwunden werden.
Er warnt: „Wir dürfen die Kinder nicht aufgeben.“Vom plakativen Slogan einer „lost generation“, einer verlorenen Generation, hält der Psychologe nichts. „Das sehe ich nicht“, sagt Fegert. Auch Schulpsychologin Fischer glaubt nicht, dass eine Generation dauerhaft geschädigt ist. „Schüler verfügen über eine Resilienz“, eine Widerstandskraft. Diese gelte es zu mobilisieren. Auch mit Hilfe von schulpsychologischen Beraterinnen. Dafür sind diese Stellen schließlich da.
Wir müssen Kindern beibringen, sich nicht für diese Lücken zu schämen.
Jörg Fegert
Jugendpsychiater