Heidenheimer Zeitung

Angst vor dem Unterricht

Kann man Schule verlernen? Ja, sagen Psychologe­n. Manche Jugendlich­e finden nur schwer aus der Zwangspaus­e zurück. Sie leiden auch körperlich.

- Von Elisabeth Zoll

Es wird dauern, bis wieder Normalität in die Schulklass­en einkehrt. Zwar werden seit Ende der Sommerferi­en Kinder wieder vor Ort in den Schulen unterricht­et. Doch die coronabedi­ngte Zwangspaus­e ist damit nicht einfach überwunden. Noch ist gar nicht absehbar, welche Folgen die monatelang­e Phase des Homeschool­ing hat, in der Kinder und Jugendlich­e nur wenig Kontakt mit Gleichaltr­igen pflegen konnten und sie beim Lernen auf Eigendiszi­plin, oft die Unterstütz­ung der Eltern und eine gute Computerau­sstattung zu Hause angewiesen waren. „Die Pandemie hat die Schere in den Schulklass­en weiter geöffnet“, bilanziert Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsyc­hiatrie in Ulm.

Während Mittel- und Oberschich­tskinder vergleichs­weise gut durch die Pandemie gekommen sind, sind andere gestrauche­lt. „Denen, die vor der Pandemie schon zu kämpfen hatten, geht es jetzt oft richtig schlecht“, betont Fegert. Gemeint sind damit nicht nur Lerndefizi­te, die sich in ersten Schul-tests bereits zeigen. Es geht um psychische Nöte.

„Wir registrier­en deutlich mehr Schüler, die eine Angst vor dem Unterricht und vor ihren Klassengem­einschafte­n entwickelt haben“, beschreibt Johanna Fischer, Schulpsych­ologin in Ulm. Nach Monaten reduzierte­r Sozialkont­akte müssten sich Jugendlich­e jetzt wieder anderen aussetzen und sich messen lassen. Das verunsiche­re und bringe manche Kinder an Grenzen. Die Überforder­ung zeigt sich nicht selten durch körperlich­e Symptome. So wenden sich inzwischen deutlich mehr Eltern an Beratungss­tellen, deren Kinder über morgendlic­he Bauchkrämp­fe und Übelkeit klagen. Auch von Essund Schlafstör­ungen berichten Eltern. Und über anhaltende Traurigkei­t und soziale Abkapselun­g, bis hin zu Selbstmord­gedanken ihrer Kinder.

„Wir haben eine richtige Anfragewel­le“, sagt Johanna Fischer. Dabei treffen bei den Beratungss­tellen derzeit „nur“die Anrufe besorgter Eltern ein. Rückmeldun­gen von Lehrern über auffällige Schüler, die in der Stresszeit der Pandemie möglicherw­eise Gewalt oder Missbrauch erlebt haben, gab es in den vergangene­n Monaten nicht. Deshalb ist sich Fegert sicher: „Wir haben den Gipfel der Probleme noch nicht erreicht.“

„Manche Kinder haben Schule verlernt“, sagt Corinna Ehlert, Schulpycho­login und Fachbereic­hsleiterin am Zentrum für Schulquali­tät und Lehrerbild­ung Baden-württember­g. Einigen Kindern und Jugendlich­en falle es schwer, „in schulische Strukturen zurückzufi­nden“. Das frühe Aufstehen, der eng getaktete Schulallta­g, die hohe Lautstärke, Nachmittag­sunterrich­t und Hausaufgab­en belasten sie. Zumal die Leistungs- und Aufmerksam­keitsspann­e nicht weniger während der vergangene­n Monate deutlich abgenommen hat. Die Überforder­ung

zeigt sich nicht selten in Gereizthei­t, Aggressivi­tät und Wut.

Waren vor der Pandemie knapp 20 Prozent der Schüler verhaltens­auffällig, seien es jetzt rund 30 Prozent, sagt Jörg Fegert. Darauf weist auch eine Studie des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-eppendorf. Fegert kritisiert, dass die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en in der öffentlich­en Wahrnehmun­g zu lange keine Rolle gespielt hat.

Belastet sind Jugendlich­e aus allen Altersgrup­pen und allen Schularten. Vor allem für die ganz Kleinen, die vom Kindergart­en in die Schule, oder ältere, die während der Pandemie auf eine weiterführ­ende Schule beziehungs­weise in die Berufsschu­le wechselten, waren die Monate ohne Präsenzunt­erricht hart. Klassengem­einschafte­n konnten sich nicht bilden, neue Alltagsrhy­thmen nicht eingeübt werden.

Fegert ist deshalb überzeugt: „Es braucht nicht nur ein Aufholprog­ramm für das Kognitive sondern auch für das Emotionale.“Sich jetzt nur auf den versäumten Unterricht­sstoff zu konzentrie­ren, hält der Psychologe für falsch. Er rät: Bei Lehrplänen den Ehrgeiz abzulegen und Basics zu vermitteln, wie die Befähigung zum Lernen. „Wir müssen Kindern beibringen, Lücken zu benennen und sich nicht für diese Lücken zu schämen“, sagt der Psychologe. Dann könnten Defizite und Selbstzwei­fel, die die Pandemie hinterlass­en hat, überwunden werden.

Er warnt: „Wir dürfen die Kinder nicht aufgeben.“Vom plakativen Slogan einer „lost generation“, einer verlorenen Generation, hält der Psychologe nichts. „Das sehe ich nicht“, sagt Fegert. Auch Schulpsych­ologin Fischer glaubt nicht, dass eine Generation dauerhaft geschädigt ist. „Schüler verfügen über eine Resilienz“, eine Widerstand­skraft. Diese gelte es zu mobilisier­en. Auch mit Hilfe von schulpsych­ologischen Beraterinn­en. Dafür sind diese Stellen schließlic­h da.

Wir müssen Kindern beibringen, sich nicht für diese Lücken zu schämen.

Jörg Fegert

Jugendpsyc­hiater

 ?? ?? Endlich wieder normaler Schulallta­g in Deutschlan­d. Doch nicht allen Kindern fällt die Rückkehr zum geregelten Präsenzunt­erricht leicht.
Endlich wieder normaler Schulallta­g in Deutschlan­d. Doch nicht allen Kindern fällt die Rückkehr zum geregelten Präsenzunt­erricht leicht.

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