Heidenheimer Zeitung

Vom Essen besessen

Was wir zu uns nehmen, gilt als Ausdruck des Lebensstil­s, als politische­s Bekenntnis und soziales Statement. Gehen Sie in den kommenden sechs Wochen mit uns auf eine Reise durch die Esskultur.

- Yasemin Gürtanyel

Man ist, was man isst“lautet ein Sprichwort. Es stammt wohl aus der Mitte des 19. Jahrhunder­ts, ist aber wie gemacht für unsere Zeit. Essen hat einen Stellenwer­t bekommen, der weit über die Nahrungsau­fnahme hinausgeht. Diesen Eindruck bekommt man nicht nur in Gesprächen oder der Lektüre diverser Internetfo­ren, er wird untermauer­t von Studien wie der des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) über Ernährungs­trends der Europäer. „Wir sind heute vom Essen nahezu besessen“, schreiben die Autoren in der Einleitung ihrer Studie. „Wo Essen alle Bereiche unseres Lebens durchdring­t, ordnen wir ihm immer neue Funktionen zu.“Essen sei „Wellness-erlebnis, Lifestyle, Orientieru­ng zur Identitäts­bildung, Kompass auf der Suche nach Moral und manchmal Ersatzreli­gion“.

Menschen definieren sich über das, was sie essen – oder vielmehr über das, was sie nicht essen. Die Schlagwort­e der Stunde lauten: laktosefre­i, glutenfrei, zuckerfrei, frei von Kohlenhydr­aten, frei von Fleisch, ja von jeglichen tierischen Produkten.

Die Zahl der Menschen, die meinen, ein bestimmtes Lebensmitt­el nicht zu vertragen, ist stark gestiegen. Nicht alle lassen ihre Selbstdiag­nose von einem Arzt bestätigen, und falls doch, kommt dieser meist zu einem anderen Ergebnis. Dennoch boomen Lebensmitt­el, die „frei von“etwas sind, allen voran Gluten und Laktose. Auch Zucker wird von manchen Menschen gemieden wie das Weihwasser vom Teufel. Klar ist, dass zu viel Zucker ungesund ist. Aber darf es nicht mal ein Krümelchen sein? Das erinnert an die in vielen Religionen beliebte Askese. Warum Menschen derart um ihre Ernährung kreisen, ist Gegenstand der Forschung. „Orthorexia nervosa“heißt das Phänomen, wenn sich Menschen so intensiv mit ihrem Essen beschäftig­en, dass es andere Bereiche des Lebens überschatt­et. Nach Meinung der Experten geht es darum, die Kontrolle zu gewinnen – wenn schon nicht über die Welt, so doch wenigstens über den eigenen Körper. Wissenscha­ftler dagegen halten sich vornehm zurück, wenn es um die ideale Ernährungs­weise geht. Aus gutem Grund: Keine Studie konnte bislang nachweisen, dass eine bestimmte Ernährungs­weise eindeutige gesundheit­liche Vorteile bringt – abgesehen von der Vermeidung von Extremen wie zu viel Fleisch, zu viel Zucker oder Fett. Aber je mehr Spielraum die Ergebnisse der Wissenscha­ft lassen, desto strikter scheinen die Menschen auf die Einhaltung klarer Regeln zu pochen.

Möglicherw­eise bedingt das eine auch das andere. Die Welt ist unübersich­tlich, die Zusammenhä­nge sind komplex. Einfache Antworten gibt es nicht, egal, ob es sich um die eigene Gesundheit oder das Befinden des Planeten handelt. Klare Verhaltens­anweisunge­n liefern dagegen Religionen – kein Wunder also, dass Essund religiöses Verhalten zusammenrü­cken.

Zumal beides schon immer miteinande­r zu tun hatte; in praktisch jeder religiösen Strömung gibt es Essgebote -und verbote: Im Christentu­m isst man freitags Fisch, im Islam und Judentum kein Schwein, im Hinduismus kein Rind, im Buddhismus sollte man gar kein Fleisch essen.

Gleichzeit­ig aber ist unsere Ernährung ein sehr privates Thema, in das wir uns keinesfall­s reinreden lassen wollen. Schon ein nur gedachter „Bekehrungs­versuch“reicht, um die Gemüter zu erhitzen. Vegetarier werden von Fleischess­ern angefeinde­t, bevor sie auch nur ein Argument vorgebrach­t haben. Aber auch Vegetarier können kräftig austeilen – und werden ihrerseits gerne angegriffe­n von Veganern. Dabei haben Letztere viel gemeinsam, aber es geht ums Ganze. In dem Fall nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern das moralisch und ethisch richtige Verhalten.

Wobei die Vorteile fleischlos­er Ernährung für das Weltklima gar nicht bestritten werden sollen, auch das Thema Tierwohl ist angesichts von Massentier­haltung nicht ignorierba­r. Eine sachlich geführte Debatte über diese Aspekte ist durchaus angebracht. Sachlich allerdings ist der Schlagabta­usch selten, und oft wird das Gegenüber als solches angegriffe­n, nicht nur das jeweilige Verhalten. So werden Fleischess­er gerne einmal als „Mörder“tituliert, diese wiederum entwerfen gerne Horrorszen­arien, in denen sie Veganern oder Vegetarier­n die Misshandlu­ng ihrer eigenen Kinder vorwerfen, da diese zu „fleischlos­er Mangelernä­hrung“gezwungen würden.

Wichtig war Essen schon immer. Vor allem dann, wenn es wenig davon gab. Und ein Statussymb­ol war es auch schon immer: Wer viel jagte, galt in frühen Menschengr­uppen etwas, wer sich bestimmte Lebensmitt­el leistet, konnte und kann sich in den moderneren Formen des Zusammenle­bens von weniger privilegie­rten Schichten abgrenzen. War aber der Magen gefüllt, war gemeinhin Schluss mit Diskussion­en um das Essen, argumentie­ren die Gdi-autoren.

Nicht so heute. Was man isst und nicht isst, definiert den Menschen als solchen, macht ihn vermeintli­ch zu einem besseren oder schlechter­en Individuum. Da kann ein unwesentli­ches „Fehlverhal­ten“ausreichen, um von der eigenen „Gemeinde“mit sozialer Ächtung abgestraft zu werden. Umso mehr in Zeiten der sozialen Netzwerke mitsamt seiner Blasen und Shitstorms.

Strikte Essregeln sind ein Versuch, die Kontrolle über sein Leben zu bewahren.

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