Keine Stiege für Witwe Schuster
Der Zwist einer 76-jährigen Frau mit ihrem Sohn landete vor 300 Jahren vor dem Rat der Freien Reichsstadt. Heimatforscher Ulrich Stark zeichnet ein Stimmungsbild über das damalige häusliche Zusammenleben.
Schon vor 300 Jahren hatte sich der Rat der Stadt Giengen mit Baufragen privater Häuslesbesitzer zu beschäftigen. Damals ging es freilich weniger um die Fragen, welche Farbe die Dachziegel haben dürfen und ob man zwei- oder dreigeschossig bauen darf.
Während heutzutage das Erscheinungsbild eines Gebäudes eine große Rolle spielt (wie passt sich das Vorhaben in die vorhandene Bebauung ein?), spielte die Optik im Jahre 1723 noch eine stark untergeordnete Rolle. Es ging vielmehr darum, sich durch praktische Maßnahmen das Alltagsleben zu erleichtern. Und dabei konnten die Meinungen durchaus so sehr auseinandergehen, dass der Rat der Stadt schließlich eine Lösung herbeiführen musste.
Kleiner Anlass
In dem Fall vom Oktober 1723, den Heimatforscher Ulrich Stark jetzt im Giengener Stadtarchiv recherchierte, ging es schlicht um das Anbringen einer Stiege, von der sich eine 76-jährige Witwe erhoffte, das Brennholz bequemer in die Küche bringen zu können. Doch ihr Sohn hatte eine andere Sichtweise. Und so wurde der innerfamiliäre Zwist eines Tages zur öffentlichen Angelegenheit.
Die Geschichte mag nicht sonderlich dramatisch erscheinen, doch zeichnet sie ein interessantes Stimmungsbild des häuslichen Zusammenlebens in Giengen im Jahre 1723.
Und sie gibt darüber hinaus Aufschluss, wie sich in einem damals üblichen „Mehrgenerationenhaus“unterschiedliche Lebensund Arbeitsbereiche unter ein gemeinsames Dach bringen ließen. Bereits im Alter von zwölf Jahren war Anna Moser, Tochter eines Färbers aus Heidenheim, nach Giengen gekommen, um als Dienstmagd zu arbeiten. Im Laufe der Zeit verliebte sie sich dort in den Metzger Martin Schuster und im Jahre 1669 wurde geheiratet.
Das Leben war für das Ehepaar nicht immer einfach. Zwar brachte Anna Schuster zehn Kinder zur Welt, doch sechs von ihnen starben sehr früh. 1721 musste sie auch von ihrem Ehemann Abschied nehmen.
Leben wurde beschwerlich
Zwei Jahre später, also 1723, war der inzwischen 76-jährigen Witwe das Leben so beschwerlich geworden, dass sie sich an den alten Karpfenwirt Johannes Bohn wandte. Der sollte sich beim Giengener Rat für die betagte Frau stark machen, die sich beim täglichen Transport von Brennholz aus dem Hof in die Küche im oberen Stock „durch vier Türen hindurch“zunehmend überfordert sah.
Um Erleichterung zu schaffen, schlug Anna Schuster vor, entweder eine Stiege in den ersten Stock anzubringen oder eben die Räumlichkeiten neu zu ordnen. Man solle „ihro ihre aigne Vordere Stube cedieren“, wie sich die geplagte Witwe damals ausdrückte.
Um eines dieser Ziele verwirklichen zu können, musste der Rat allerdings den ebenfalls im Hause wohnenden Sohn vorladen, der vom mütterlichen Ansinnen bis dahin wenig angetan war. Georg Schuster, zum Zeitpunkt des Geschehens 40 Jahre alt und im selbigen
Hause als Metzger beschäftigt, sah mit dem Bau einer Stiege vom Hof in den oberen Stock und einem damit verbundenen zweiten Zugang zum Haus etliche Probleme einhergehen.
Er befürchtete, dass ihm in seiner Metzgerei „dardurch die Helle benommen“werde. Außerdem müsse er dann seinen Schweinstall abreißen, dessen Fundamenthölzer ohnehin schon „mehrertheils verfault“seien und durch das Abbrechen gar unbrauchbar gemacht würden“.
Ein solcher Umbau „zieht allerhand Leut ins Hauß, denen deßwegen dardurch beßere Gelegenheit gegeben würde, seine Me
zigkammer mehrers zu besuchen“, gab der Sohn laut Ratsprotokoll weiter zu bedenken. Und führte argumentativ ins Feld, dass er schließlich auch schon bestohlen worden sei. Georg Schuster befürchtete durch den Anbau einer Treppe wohl eine weitere Gefährdung des ohnehin schon strapazierten Hausfriedens.
Mit Feuergefahr argumentiert
Auch die Verlässlichkeit seiner Mutter, die mit zunehmendem Alter offenbar nicht nur körperlich abbaute, stellte er gegenüber dem Rat in Frage: „Sie seye auch mit dem Fewer ohnvorsichtig, wie dann verwichen (kürzlich) schier
ein Unglück hette geschehen können.“
Mit diesem Argument dürfte Georg Schuster den Rat durchaus beeindruckt haben. Denn seit dem Stadtbrand 1634 war Feuer in Giengen ein besonderes Thema. Mit seinem Vorschlag, der Mutter „ein Schurffen einzuräumen, daß sie ihr Holz trocken halten könne“und dem Versprechen, er wolle ihr „allzeit das Holz selbsten in die Kuche schaffen“, baute er die Brücke zur Lösung.
Der Stapel mit dem Brennholz muss sich neben dem als kleine Holzhütte angebauten Schweinestall auf der Hofseite des Gebäudes befunden haben. Und natürlich fragt man sich an dieser Stelle, weshalb der Sohn seiner Mutter nicht schon vorher seine häusliche Transporthilfe in Sachen Brennholz angeboten hatte, denn dann wäre die Sache vermutlich auch nicht vor den Rat gekommen.
Jedenfalls nahm die in Sachen Rechtssprechung geschulte Giengener Ortsverwaltung den Metzger Schuster beim Wort. „Weilen Er seiner Mutter alle Fälligkeiten zu erweisen erbiet, solle es bey dem Vorigen sein bewenden haben“. Sprich: Keine Stiege für die Frau Mama.
Das alles freilich blieb nicht ohne eindringliche Mahnung an die beiden Streithähne. Der Rat sah sich zu einer sogenannten „scharpffen Correction“veranlasst. Gemeint war damit eine eindringliche Aufforderung zu Verbesserung des häuslichen Zusammenlebens. Ein Beispiel, welches zeigt, dass es innerfamiliäre Probleme zu allen Zeiten gab, wie Heimatforscher Ulrich Stark treffend resümierte.