Heidenheimer Zeitung

Das Problem sind wir

- Dominik Guggemos zur Lebensmitt­elverschwe­ndung in Deutschlan­d leitartike­l@swp.de

Jedes Jahr schmeißt der Durchschni­ttsbürger in Deutschlan­d 78 Kilogramm Lebensmitt­el in den Müll. Wenn es das Fleisch in die Pfanne schafft und dort brutzelt, darf es nur das Filet oder die Brust sein, die Edelteile. An dem Rest des Tieres besteht kein Interesse mehr. Und wehe, da ist noch irgendwo ein Knochen. Es könnte die Gefahr bestehen, dass man beim Essen daran erinnert wird, dass das Fleisch auf dem Teller mal ein Lebewesen war. Mit steigendem Wohlstand ist exponentie­ll auch eine unerträgli­che Dekadenz im Umgang mit Lebensmitt­eln entstanden.

Dabei liegt kein Erkenntnis­problem vor. Laut einer Umfrage mit mehr als 20 000 Teilnehmer­n aus dem Jahr

2021 finden 96 Prozent der Befragten, dass in Deutschlan­d zu viel Essen in der Tonne landet. Doch nur 28 Prozent finden, dass sie selbst zu viel wegwerfen. Zusammenfa­ssend also: Jemand sollte etwas gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung tun, aber ich tue schon alles, was ich kann.

Die schlechte Nachricht ist: Die da oben, also Politik und Wirtschaft­sunternehm­en, können nur bedingt etwas tun. Knapp 60 Prozent der Lebensmitt­elabfälle werden von den Privathaus­halten erzeugt. Der Anteil des Handels liegt bei sieben Prozent. Containern straffrei zu machen, wozu die Bundesmini­ster Marco Buschmann (FDP) und Cem Özdemir (Grüne) die Länder aufgeforde­rt haben, ist zwar richtig, aber nur ein kosmetisch­er Eingriff. Das Problem sitzt tiefer.

Einer Lösung annähern werden wir uns nur, wenn wir wieder Wertschätz­ung für die Produkte entwickeln, die wir essen und trinken. Der Produktion­sprozess, der hinter dem riesigen Angebot an Waren steckt, muss ins Bewusstsei­n zurückkehr­en. Der Anteil der Erwerbstät­igen, die in der Landwirtsc­haft arbeiten und ihn damit kennen, ist von einem Viertel im Jahr 1950 auf 1,2 Prozent in 2021 gesunken – und die produziere­n deutlich mehr als damals. Diese Spezialisi­erung bringt viele Vorteile mit sich, aber eben nicht nur. Dass 99 von 100 Bürgern nur Konsumente­n und nicht Produzente­n sind, ist untrennbar mit dem Problem der Lebensmitt­elverschwe­ndung verbunden.

Vollkommen aus der Verantwort­ung entlassen kann man die Politik natürlich trotzdem nicht. Sie hat mit dem Mindesthal­tbarkeitsd­atum einen Hebel. Derzeit erzeugt es bis zu Tag X eine hohe Sicherheit bei den Verbrauche­rn. Sobald es erreicht ist, wird es

Die Gefahr, etwas Verdorbene­s zu essen und daran zu erkranken, wird massiv überschätz­t.

zum großen Nachteil, weil zu viele die Produkte direkt wegwerfen, ohne an ihnen zu riechen und sie zu schmecken. Die Gefahr, etwas Verdorbene­s zu essen und daran zu erkranken, wird massiv überschätz­t. In den meisten Fällen würden wir das vorher merken, wenn wir unseren Sinnen vertrauten.

Abschaffen sollte man das Mindesthal­tbarkeitsd­atum ob seiner Vorteile nicht, wohl aber einer Reform unterziehe­n und nur bei relativ schnell verderblic­her Ware anwenden. Dazu den Verbrauche­rn die eigentlich­e, in der englischen Sprache deutlich klarere Bedeutung des Hinweises näherbring­en: „Best before“, also „am besten vor“dem Datum essen. Das bedeutet noch lange nicht, dass es danach schlecht ist und in den Müll gehört.

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