Das Problem sind wir
Jedes Jahr schmeißt der Durchschnittsbürger in Deutschland 78 Kilogramm Lebensmittel in den Müll. Wenn es das Fleisch in die Pfanne schafft und dort brutzelt, darf es nur das Filet oder die Brust sein, die Edelteile. An dem Rest des Tieres besteht kein Interesse mehr. Und wehe, da ist noch irgendwo ein Knochen. Es könnte die Gefahr bestehen, dass man beim Essen daran erinnert wird, dass das Fleisch auf dem Teller mal ein Lebewesen war. Mit steigendem Wohlstand ist exponentiell auch eine unerträgliche Dekadenz im Umgang mit Lebensmitteln entstanden.
Dabei liegt kein Erkenntnisproblem vor. Laut einer Umfrage mit mehr als 20 000 Teilnehmern aus dem Jahr
2021 finden 96 Prozent der Befragten, dass in Deutschland zu viel Essen in der Tonne landet. Doch nur 28 Prozent finden, dass sie selbst zu viel wegwerfen. Zusammenfassend also: Jemand sollte etwas gegen Lebensmittelverschwendung tun, aber ich tue schon alles, was ich kann.
Die schlechte Nachricht ist: Die da oben, also Politik und Wirtschaftsunternehmen, können nur bedingt etwas tun. Knapp 60 Prozent der Lebensmittelabfälle werden von den Privathaushalten erzeugt. Der Anteil des Handels liegt bei sieben Prozent. Containern straffrei zu machen, wozu die Bundesminister Marco Buschmann (FDP) und Cem Özdemir (Grüne) die Länder aufgefordert haben, ist zwar richtig, aber nur ein kosmetischer Eingriff. Das Problem sitzt tiefer.
Einer Lösung annähern werden wir uns nur, wenn wir wieder Wertschätzung für die Produkte entwickeln, die wir essen und trinken. Der Produktionsprozess, der hinter dem riesigen Angebot an Waren steckt, muss ins Bewusstsein zurückkehren. Der Anteil der Erwerbstätigen, die in der Landwirtschaft arbeiten und ihn damit kennen, ist von einem Viertel im Jahr 1950 auf 1,2 Prozent in 2021 gesunken – und die produzieren deutlich mehr als damals. Diese Spezialisierung bringt viele Vorteile mit sich, aber eben nicht nur. Dass 99 von 100 Bürgern nur Konsumenten und nicht Produzenten sind, ist untrennbar mit dem Problem der Lebensmittelverschwendung verbunden.
Vollkommen aus der Verantwortung entlassen kann man die Politik natürlich trotzdem nicht. Sie hat mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum einen Hebel. Derzeit erzeugt es bis zu Tag X eine hohe Sicherheit bei den Verbrauchern. Sobald es erreicht ist, wird es
Die Gefahr, etwas Verdorbenes zu essen und daran zu erkranken, wird massiv überschätzt.
zum großen Nachteil, weil zu viele die Produkte direkt wegwerfen, ohne an ihnen zu riechen und sie zu schmecken. Die Gefahr, etwas Verdorbenes zu essen und daran zu erkranken, wird massiv überschätzt. In den meisten Fällen würden wir das vorher merken, wenn wir unseren Sinnen vertrauten.
Abschaffen sollte man das Mindesthaltbarkeitsdatum ob seiner Vorteile nicht, wohl aber einer Reform unterziehen und nur bei relativ schnell verderblicher Ware anwenden. Dazu den Verbrauchern die eigentliche, in der englischen Sprache deutlich klarere Bedeutung des Hinweises näherbringen: „Best before“, also „am besten vor“dem Datum essen. Das bedeutet noch lange nicht, dass es danach schlecht ist und in den Müll gehört.