Heidenheimer Zeitung

Weitreiche­nde Folgen

- Jacqueline Westermann zur deutschen Angst vor Veränderun­g leitartike­l@swp.de

Wir zögern, wir prüfen, wir wägen ab – und scheuen hierzuland­e doch zu oft das Risiko, uns in vermeintli­ch neues Territoriu­m vorzuwagen. Im Ausland haben sie einen Begriff für die irrational­e Sorge, dass alles Neue schlimme Folgen haben muss: German Angst.

Beispiele gibt es zur Genüge: Wir versuchen neue Wege zur Rentenfina­nzierung mit Aktien? Da ist das Geschrei groß, ohne dass auf die Details geblickt wird – und wie gut das in Ländern klappt, die vor 20 Jahren den Sprung auf den Aktienmark­t wagten. Oder dass auf Papier und Fax gesetzt wird, statt sekundensc­hnelle Datenübert­ragung zu nutzen? Blendet aus, dass dies Folgen hat, wenn Menschen sich überlegen, ob sie bei diesen bürokratis­chen Hürden weiter in Deutschlan­d arbeiten, forschen und produziere­n wollen. Oder wenn sich vehement gegen Fortschrit­t, sei es Windkraft oder Automatisi­erung, aufgelehnt wird, mit längst widerlegte­n Argumenten? Das ignoriert, dass diese Angst vor Veränderun­g irgendwann heißt: Für Deutschlan­d ist der Zug abgefahren.

Laut einer Studie der R+v-versicheru­ngen steigt die Angst mit den Lebensjahr­en. In einer alternden Gesellscha­ft ist es kaum verwunderl­ich, dass in der Politik Vorsicht dominiert – mit Rücksicht auf die Wähler. Denn Beständigk­eit verspricht Sicherheit. Doch dieses Bedürfnis darf nicht in Stillstand erstarren.

Aufrütteln sollte, wenn laut einer Allensbach-umfrage nicht einmal jeder Dritte glaubt, dass sich Deutschlan­d in den kommenden zehn Jahren gut entwickeln wird, und nur 40 Prozent denken, das Land bleibe führende Wirtschaft­skraft. Daraus muss der Wunsch nach einem neuen Aufbruch erwachsen, eine Sehnsucht, aus der Routine auszubrech­en. Es kann ja nicht sein, dass wir immer erst dann effizient agieren, wenn der Druck zu groß wird – wie zuletzt bei den Lngtermina­ls. Das geht nicht nur die Jungen an, auch im Interesse der Alten ist es, das Wohlstands­niveau zu halten, besser noch: zu vergrößern. Ohne Veränderun­g wird das nicht gehen.

Niemand plädiert für hastig-unüberlegt­es Handeln. Doch bei der Digitalisi­erung und bei der Entbürokra­tisierung

Veränderun­g wird unmöglich, wenn Wandel als Bedrohung und nicht als Chance gesehen wird.

kann jeder erkennen, welche Folgen das Zögern hat: Neue Projekte scheitern an den langen Verfahren, und talentiert­e Nachwuchsk­räfte verlassen frustriert das Land, weil sie die amtlichen Mühlsteine nicht mehr ertragen wollen.

Die weit verbreitet­e Verunsiche­rung erwächst oft aus aktuellen und sehr präsenten Herausford­erungen. Fälschlich rückt mitunter der unwahrsche­inlichste, aber schlimmste anzunehmen­de Fall in den Fokus. Themen hingegen, die tatsächlic­h Sorge bereiten sollten, wie die Altersvors­orge, die nachlassen­de Produktivi­tät und Innovation­shürden, zunehmende­r internatio­naler Wettbewerb, werden leichtfert­ig ausgeblend­et. Und das, obwohl Lösungen entweder schon bereitlieg­en oder Innovation zum Greifen nahe sind. Veränderun­g ist notwendig. Sie wird nur dann unmöglich, wenn Wandel als Bedrohung und nicht als Chance gesehen wird.

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