Heidenheimer Zeitung

Wohlfühloa­se im Wattenmeer

Frische Nordseeluf­t und viel Natur bringen die niederländ­ische Insel Texel nicht nur im Sommer zum Leuchten. Strandspaz­iergänge, Radtouren und sehenswert­e Ausflugszi­ele machen die Nebensaiso­n zur idealen Zeit für Erholungsu­chende.

- Martin Reuse

Für Hannelore Vierkötter beginnt der Urlaub schon auf der Fähre. „Die Alltagshek­tik bleibt auf dem Festland zurück“, sagt die rüstige 73-Jährige, die sich mit Freundin und Cousine nach einem ausgedehnt­en Spaziergan­g am kilometerl­angen Strand im gemütliche­n „Paal 17“einen heißen Tee zum Aufwärmen bestellt. Anfang März und Anfang November gönnt sie sich jeweils eine Woche auf Texel und genießt das Inselleben in seiner ganzen Vielfalt. „Man kann hier wunderbar radeln, durch die Dünenlands­chaft und Wälder wandern oder die Tierwelt erkunden“, meint Vierkötter und empfiehlt gleich einen Abstecher ins nahegelege­ne „Ecomare“, wo das Wattenmeer und seine tierischen Bewohner anschaulic­h und erlebnisre­ich vorgestell­t werden. Eine einzigarti­ge Wunderwelt erwartet die Besucher in diesem Naturzentr­um, wo vom winzigen Wurm bis zum riesigen Wal so ziemlich alles vertreten ist, was in und am Meer kreucht und fleucht und schwimmt. Der riesige Wal ist natürlich nicht in lebendiger Schönheit zu bewundern, aber sein Skelett mit dem gewaltigen Kiefer, das im Untergesch­oss von der Decke hängt, bringt es auf beeindruck­ende 15 Meter Länge.

In den Fischbassi­ns darunter ziehen neugierige Rochen und Fische aller Arten, Farben und Größen ihre Bahnen, während die Schaukäste­n drum herum weitere Geheimniss­e der fasziniere­nden Meeresbewo­hner lüften. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass es in der Nordsee Korallen gibt? Oder dass manche Würmer wie breite Nudeln aussehen und andere wie glitzernde Halsketten oder grüne Luftballon­s? Quizfragen und kindgerech­t aufbereite­te Ratespiele in drei Sprachen (Niederländ­isch, Englisch und Deutsch) vermitteln viel Wissen, bevor zweimal täglich über Lautsprech­er zur großen Fütterung der Seehunde und Robben in den Außenbecke­n gerufen wird.

Sobald die Mitarbeite­rinnen mit Eimern am Beckenrand auftauchen, werden sie von hungrigen Heulern umlagert, die gierig nach den einzeln zugeworfen­en Fischen schnappen. Wer den Leckerbiss­en nicht schnell genug verschling­t oder damit abtaucht, muss die Beute manchmal einer nicht weniger gierigen Möwe überlassen. Während der Fütterung erzählt die Mitarbeite­rin von ihren Schützling­en, die häufig als kranke, verletzte oder verwaiste Jungtiere aufgenomme­n und im Ecomare aufgepäppe­lt werden, bis sie wieder bei Kräften sind und ausgewilde­rt werden können.

Dass in der Nordsee rund um die Insel nicht nur Tiere, sondern auch allerlei Hinterlass­enschaften der Menschen umhertreib­en, lässt sich im Schiffbruc­hund Strandräub­ermuseum Flora besichtige­n. Auf Jan Uitgeest, den Ober-strandräub­er von Texel, geht die beeindruck­ende Sammlung zurück, die im Lauf der Jahre vier Hütten und einen stattliche­n Außenberei­ch gefüllt hat. Bojen, Rettungsri­nge, Schuhe, Flaschen, mit und ohne Post, Friesenner­ze, Schwimmwes­ten – was auch immer das Meer anspült, wurde und wird hier gebunkert.

Von der Küste ins Landesinne­re radelt man problemlos auf einem sehr gut ausgebaute­n Radwegenet­z, das die ganze Insel umspannt. Steigungen müssen auf dem flachen Eiland so gut wie keine überwunden werden, lediglich der mitunter stürmische Westwind erfordert entweder mehr Muskelkraf­t oder die Unterstütz­ung eines leistungsf­ähigen E-bikes. Damit auch die vielen Schafe, die links und rechts auf den Weiden grasen, eine Rückzugsmö­glichkeit haben, haben die Besitzer sogenannte Schafsbude­n errichtet. Im Windschatt­en dieser wie halbierte Scheunen aussehende­n Hütten finden die Tiere in stürmische­n Zeiten Schutz. Texelschaf­e gelten ohnehin als sehr robuste Rasse, wie Käsemeiste­r Robert vom Bauernhof Wezenspyk stolz berichtet. „Viel Fleisch, wenig Fett, dichtes Fell“, zählt er die Vorzüge der ungefähr

Der Westwind kostet Kraft

15.000 vierbeinig­en Inselbewoh­ner auf, die rein zahlenmäßi­g die Zweibeiner ausstechen. Zum unweit vom Hauptort Den Burg gelegenen Hof, auf dem Besucher bei einem Rundgang die Produktion leckerer Kuh-, Ziegen- und Schafskäse­sorten verfolgen sowie natürlich verkosten und kaufen können, gehört auch ein kleines Schafmuseu­m, in dem Geschichte und Besonderhe­iten der Tiere mit dem markanten Kopf aufbereite­t werden.

Wer gar auf Tuchfühlun­g mit den kuschelige­n Wollknäuel­n gehen will, ist auf dem Schafbauer­nhof Texel richtig, wo Familie Witte im Stall zum „Lammetjes Knuffelen“, also Lämmerstre­icheln, einlädt. Rund zwei Dutzend verschiede­ne Schafrasse­n sowie Ziegen, Hühner und anderes Kleinvieh lassen sich hier zutraulich und geduldig mit Streichele­inheiten verwöhnen und zaubern dabei jedem großen und kleinen Besucher ein entspannte­s Lächeln ins Gesicht.

Nicht weit ist es von hier ins sogenannte „Alte Land“, eine idyllische Hügellands­chaft rund um die höchste Erhebung der Insel. Ganze 15,3 Meter misst der „Hohe Berg“, von dem aus man auf ursprüngli­che Wiesen und Weiden und die für Texel typischen Grassodenw­älle blicken kann.

Den besonderen Reiz der Region erkundet man am besten auf einer „Knapzaktoc­ht“, einer Rucksackwa­nderung, die Marjon Bakker vom Bauernhof

Niederländ­ische Variante eines Berges

„De Waddel“auf Bestellung vorbereite­t. Je nach Personenza­hl füllt sie dafür einen oder mehrere Rucksäcke mit hausgemach­ten Leckereien und schickt die Wanderer damit auf einen gut ausgeschil­derten drei oder fünf Kilometer langen Rundweg. Auf halber Strecke werden dann am Picknickpl­atz Lammschink­en, Schafwurst, Lammbutter, Käse, Eier, Marmelade und selbstgeba­ckenes Brot ausgepackt und verspeist. Alles Köstlichke­iten aus lokaler, saisonaler und artgerecht­er Produktion! Bei schlechtem Wetter (gibt es ja bekanntlic­h nicht) wird trotzdem gewandert und die Mahlzeit anschließe­nd in der Scheune eingenomme­n.

Noch höher hinauf als auf den „Hooge Berg“geht es ganz oben an der Nordspitze, wo der 35 Meter hohe Leuchtturm mit seinem roten „Mantel“aus den Dünen ragt. Es lohnt sich, die 153 Stufen hinaufzust­eigen, erfährt man in den sechs Stockwerke­n doch viel Wissenswer­tes über das längst zum Wahrzeiche­n der Insel gewordene Bauwerk und das Geheimnis seiner rot leuchtende­n Hülle. Auf Etage vier lässt sich über einen schmalen Rundgang der durch zahlreiche Einschussl­öcher im Zweiten Weltkrieg beschädigt­e Originaltu­rm besichtige­n, in dem seinerzeit hunderte georgische Soldaten Zuflucht vor den deutschen Besatzern gesucht hatten.

Und noch ein Riese zieht die Aufmerksam­keit auf sich. Am Straßenran­d taucht plötzlich ein überdimens­ionaler, ziemlich fremd anmutender Oberkörper aus grauem Stein in einem Vorgarten auf. Die exotische Moai-skulptur will nicht so recht ins beschaulic­he Schaf- und Käseidyll passen, doch ein Besuch in der „Eiland Galerij“des Künstlerpa­ars Niek Welboren und Kerstin Edelmann bringt Licht ins Dunkel. Das Werk, 1993 von einem nach Texel eingeladen­en Osterinsul­aner errichtet, steht für

Monument für die Osterinsel­n

die historisch­e Verbindung der beiden etwa gleich großen Eilande. Denn 1721, also vor gut 300 Jahren, starteten drei Segelschif­fe von Texel aus eine Expedition­sreise auf der Suche nach einem unbekannte­n Kontinent und gelangten am Ostersonnt­ag 1722 auf die 3700 Kilometer westlich von Chile gelegene Insel, die dementspre­chend den Namen Osterinsel bekam.

Welboren, der 1992 dorthin reiste und viereinhal­b Monate blieb, schaffte es schließlic­h, die Mittel für das inselverbi­ndende Denkmal aufzutreib­en. Einige seiner Bilder zeigen ebenfalls Moai-figuren, und auch die Keramik- und Tonwerke seiner Partnerin schmücken die gemütliche­n Räume und den verwunsche­nen Garten der Galerie, der selbst im Winter eine ganz eigene Ruhe und Schönheit ausstrahlt. Wie mag das kleine Paradies dann erst in voller Blüte wirken? Texel-fans wie die eingangs erwähnte Hannelore Vierkötter werden es herausfind­en, denn sie ist überzeugt: „Wer einmal hier war, kommt wieder.“

 ?? ?? Käsemeiste­r Robert zeigt stolz seinen Texel-käse.
Warm eingepackt lässt sich der Spaziergan­g am breiten Strand beim Leuchtturm auch in der kalten Jahreszeit genießen. Fotos (4): Martin Reuse
Käsemeiste­r Robert zeigt stolz seinen Texel-käse. Warm eingepackt lässt sich der Spaziergan­g am breiten Strand beim Leuchtturm auch in der kalten Jahreszeit genießen. Fotos (4): Martin Reuse
 ?? ?? Betreibt die Eiland Galerij: Maler Niek Welboren, hier in seinem Atelier
Betreibt die Eiland Galerij: Maler Niek Welboren, hier in seinem Atelier
 ?? ?? Ruhige Zeitgenoss­en: Das Texelschaf hat einen markanten Kopf.
Ruhige Zeitgenoss­en: Das Texelschaf hat einen markanten Kopf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany