Zwischen Bangen und Totenwache
Im türkischen Katastrophengebiet warten die Menschen verzweifelt auf Hilfe, doch für viele Verschüttete käme sie zu spät. Trauer und Wut sind groß. Aus Ankara reist Präsident Erdogan mit Versprechungen an.
Rettung nach Stunden unter Trümmern: Es gibt auch solche Geschichten nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien. Eine davon ist die von Serap Ela. Die mit einem Schlafanzug bekleidete Fünfjährige wird von Helfern in Hatay aus den Trümmern gezogen, wie vor Ort aufgenommene Videos zeigen.
Für andere Verschüttete kommt jede Hilfe zu spät. Für Mesut Hancer ist es das letzte Mal, dass er die Hand seiner Tochter Irmak halten wird. In seiner grellorangen Warnjacke kauert er auf den Trümmern seines Hauses im südtürkischen Kahramanmaras und streichelt die wächsernen Finger der Toten. Nur der Arm der 15-Jährigen ragt, auf eine Matratze gebettet, aus dem Schutt, den Rest ihres Körpers hat das Erdbeben unter riesigen Betonplatten begraben.
Der Vater steht unter Schock, er kann nicht sprechen. Trotz der eisigen Kälte weigert er sich, Irmaks Hand loszulassen. Das Bild, das der Afp-fotograf Adem Altan von ihm machte, ging um die Welt. Die britische „Daily Mail“sprach von einem „Foto, das das Herz der Welt gebrochen hat“.
Irmak ist eine von vielen tausend Menschen, die durch das heftige Beben am Montagmorgen im türkisch-syrischen Grenzgebiet ihr Leben verloren. Die Überlebenden in Kahramanmaras sind verzweifelt. In die Trauer um die Todesopfer mischt sich Wut über die schleppende Hilfe: „Wo ist der Staat? Wo bleibt er?“, ruft Ali Sagiroglu verbittert. „Schauen Sie sich um. Hier gibt es nicht einen einzigen Offiziellen. Es sind jetzt zwei Tage seit dem Beben vergangen, und wir haben niemanden gesehen.“
Sagiroglu hofft immer noch, seinen Bruder und seinen Neffen aus ihrem eingestürzten Haus retten zu können. Doch dafür bräuchte er Hilfe. Manche Familien haben es aufgegeben, auf Rettungskräfte und Räumgerät zu warten. Sie graben mit bloßen Händen in den Trümmern nach Angehörigen. Vielerorts in der Stadt begegnet man Menschen, die völlig auf sich allein gestellt sind nach der Katastrophe – ohne staatliche Hilfe, ohne Lebensmittel oder medizinische Versorgung.
Der türkische Oppositionsführer warf Präsident Recep Tayyip Erdogan Versagen vor. „Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan“,
sagte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP. Erdogan habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten. Vielerorts wird unter anderem Pfusch am Bau als ein Grund für die vielen eingestürzten Häuser vermutet.
Erdogan räumte bei einem Besuch in den Erdbebengebieten am Mittwoch ein, dass es am ersten Tag Probleme bei der Rettung gegeben habe. Aber ab dem zweiten Tag habe man die Situation bewältigen können, sagte der Präsident in Kahramanmaras. Das Volk habe bei früheren Katastrophen „Geduld gezeigt“und werde das auch wieder tun. Man werde zügig mit den Aufräumarbeiten beginnen. Erdogan kündigte zudem die Einrichtung von Sammelunterkünften an. Zudem sollen betroffene Familien jeweils 10 000 Türkische Lira (rund 500 Euro) Soforthilfe erhalten.
Doch etliche Menschen in der Katastrophenregion warten seit Tagen auf Hilfe. Viele wissen genau, wo ihre Angehörigen, Freunde oder Nachbarn in den Trümmern vergraben sind, können teilweise sogar mit ihnen telefonieren oder ihre Stimmen hören. Auf Twitter wird millionenfach der Hashtag #SESVAR geteilt (gemeint ist: „Wir hören Stimmen“). Menschen teilen Standorte und flehen um Hilfe. Doch ohne das nötige technische Gerät zur Bergung hilft das alles nichts.
Jesco Weickert von der Welthungerhilfe hat das Erdbeben im türkischen Gaziantep erlebt. Ihm und seinem Team stecke die Erfahrung noch in den Knochen. Auch wenn Gaziantep nicht so stark wie andere Regionen betroffen sei, ist dort an Alltag derzeit kaum zu denken. Viele der Kollegen seien schockiert, schliefen in Autos und trauten sich nicht mehr in ihre Häuser. Der Strom falle immer wieder aus, und Gas gebe es nicht. „Der Schaden an der Infrastruktur ist auch hier massiv. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis man das alles wieder instand setzt“, so Weickert.
Auch die beiden Deutschen Bernd Horch und Peter Laake haben das Beben in Gaziantep miterlebt. „Es hat erst mal gedauert, bis ich verstanden habe, was gerade passiert“, erzählt Horch. „Man denkt, man träumt. Das war schlimm. Und irgendwann realisiert man: Das war ein richtig dickes Ding.“Die beiden Kollegen haben das Erdbeben unbeschadet überstanden und sich in einem Hotel in der Stadt Kayseri in Sicherheit gebracht, etwa 250 Kilometer vom Epizentrum des ersten Bebens entfernt.
Im Zentrum von Iskenderun teilen Soldaten Decken aus. Mindestens 20 Menschen recken die Hände, die Menge wird ungeduldig: „Ich habe Kinder“, ruft eine Frau. In Kahramanmaras wärmen sich die Menschen dicht gedrängt an Lagerfeuern, andere suchen in Autos Schutz gegen den rauen Wind und den Regen. In der Nacht zu Mittwoch fiel die Temperatur auf drei Grad unter Null. In den verwüsteten Straßen harren Überlebende neben den Leichen ihrer Verwandten aus. Noch ist niemand gekommen, um die Toten zu bergen.
Im Stadtzentrum ist eine unheimliche Stille eingekehrt. „Gestern konnten wir viele Menschen in den Ruinen um Hilfe rufen hören, aber heute ist es still“, sagt ein Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Sie sind wohl erfroren.“
Der Schaden an der Infrastruktur ist massiv. Jesco Weickert Welthungerhilfe