Der Heldenmut der Anderen
Der Krieg in der Ukraine konfrontiert uns mit Motiven wie Tapferkeit und Opferbereitschaft, die uns wesensfremd geworden sind – und erschüttert das postheroische deutsche Weltbild. Wüssten wir überhaupt, was wir verteidigen?
Als die Rebellen um Luke Skywalker in „Krieg der Sterne“angreifen, um den Todesstern zu zerstören, ist das eigentlich ein Himmelfahrtskommando: 30 X-wing-jäger gegen eine waffenstarrende Festung, gegen die Elite des galaktischen Imperiums, den mächtigen Darth Vader inklusive. Das Unterfangen ist nahezu hoffnungslos. Und doch stürzen sich die Rebellen ohne Rücksicht auf Leib und Leben in den Kampf. Ein Jäger nach dem anderen wird denn auch abgeschossen, bevor Luke Skywalker das Unmögliche schafft, den Todesstern in die Luft sprengt und direkt zur Siegesfeier düst – als gefeierter Held.
Auf der Kino-leinwand und in der Fiktion kennen und genießen wir sie noch, die großen Geschichten, die von Heldentum, Tapferkeit, Opferbereitschaft erzählen. Wir bewundern Protagonisten, die sich gegen die Übermacht des Bösen stemmen und ohne zu zögern kämpfen für das, was ihnen lieb und wichtig ist – und koste es auch das eigene Leben. Von der antiken Ilias über das Nibelungenlied zum modernen Action-kino: Helden-epen sind seit Jahrtausenden der Stoff, aus dem große Erzählungen gemacht sind, der bewegt und Identifikation schafft. Den egoistischen Feigling sucht sich kein Kind als „Role Model“aus.
Doch zwischen Fiktion und Realität liegen Welten. Wenn der Abspann läuft, finden wir uns im bequemen Kinosessel wieder – weit weg von der Verlegenheit, selbst Leib und Leben für die gute Sache zu riskieren. Das wohlige Gefühl, uns mit den Helden zu identifizieren, reicht uns.
Der Krieg in der Ukraine bricht seit fast einem Jahr ein in diese träumerische Distanz, irritiert und erschüttert unser Weltbild. Plötzlich sind auf sozialen Medien echte Helden und Opfer von nebenan zu sehen, begegnen uns Bilder von mutigen ukrainischen Kämpferinnen und Kämpfern, die sich gegen die russische Aggression stemmen; werden reale Gefallene betrauert, die ihr Leben für die Sache gaben. Und bei uns finden Menschen Zuflucht, die jeden Tag um Angehörige an der Front bangen müssen. Damit schleicht sich, neben vielem anderen, auch eine ungewohnte Frage in unseren sicheren, saturierten Alltag ein: Was sind, was wären wir eigentlich selbst bereit zu opfern – und wofür?
Wie wir die Dinge deuten, ist dabei verräterisch. In den ersten Tagen des russischen Überfalls auf die Ukraine schien die Sache für die Mehrheit der Deutschen ausgemacht zu sein: Binnen weniger Tage werde der Feldzug vorbei, Kiew eingenommen sein, die Übermacht der Putintruppen den Widerstand erstickt haben. Die politische Führung um Präsident Wolodymyr Selenskyj sah man schon auf dem Sprung ins Exil. Flucht, Kapitulation, Unterwerfung: Ein anderes Szenario schien gar nicht denkbar zu sein, ein heroischer Abwehrkampf wirkte wie eine geradezu abwegige Vorstellung. Dass sich die Ukraine politisch und militärisch – und mit hoher Zustimmung in der Bevölkerung – mit derartigem Widerstandsgeist und trotz hohen Blutzolls bis heute gegen einen übermächtig wirkenden Feind stemmt, schien für uns schlicht nicht denkbar. Es setzt Werte und Motive voraus, die in unserer Gedankenwelt nicht mehr vorkommen.
Auch deshalb blicken viele Deutsche bis heute mit beharrlicher Verständnislosigkeit auf diesen Krieg: Wie viele Menschen sollen denn noch sterben, bis sich auf beiden Seiten das Einsehen durchsetzt, dass Frieden die weitaus bessere, ja vernünftigere Entscheidung wäre? Muss sich die Ukraine denn wirklich derart entschlossen verteidigen? Was ist mit Verhandlungen? Nicht nur notorische Pazifisten ringen mit der Frage, ob es das wirklich wert ist, verlorene Territorien zum Preis realer Menschenleben zurückzuerobern. Der Ukraine-krieg wirkt wie ein Rückfall in längst überwundene Zeitalter, als der Tod auf dem Schlachtfeld als ehrenvoll galt – und nicht als sinnloses Sterben.
Helden in der Mottenkiste
Diese Sicht auf die Dinge kommt nicht von ungefähr: Mit dem Begriff der „postheroischen Gesellschaft“haben Politikwissenschaftler und Historiker wie etwa Herfried Münkler ein Psychogramm westlicher Wohlstandsnationen beschrieben, in denen kriegerische Tugenden (Ehre, Tapferkeit, Gehorsam) keine Rolle mehr spielen, ja abgelehnt werden. Die archaischen Heldenbilder von einst sind eingemottet, militärische und patriarchalische Hierarchien sind nur noch Relikte, Armeen werden geduldet, aber nicht verehrt. Der wirtschaftliche Wettbewerb hat die physische Auseinandersetzung ersetzt. Helden im traditionellen Sinne werden in diesen Gesellschaften nicht mehr gebraucht – außer vielleicht zur Zerstreuung in fiktiven Geschichten.
Kein Land, so Münkler, hat diese postheroische Wende derart gründlich vollzogen wie Deutschland. Nach der totalen Niederlage des Zweiten Weltkriegs wurden Nationalismus und Militarismus verständlicherweise an den Rand gedrängt, die Losung „Nie wieder Krieg“prägte das kollektive Bewusstsein und die Politik. Soldaten, das waren eben eher „Mörder“als Helden, und Krieg grundsätzlich sinnlos. Es sind Leitmotive einer Gesellschaft, die Krieg nicht nur als traumatische Niederlage erlebt hat, sondern vor allem auch aus einer Täter-perspektive definiert und die eigene Verantwortung für einen verheerenden Angriffskrieg und den Holocaust verarbeitet. Mit dieser Brille wollen viele deutsche Stimmen das pazifistische Täter-denken des „Nie-wieder“nun irritierenderweise sogar der Opfer-nation Ukraine überstülpen, sie zur Aufgabe drängen oder ihr Unterstützung versagen.
Fortschritt oder Dekadenz?
Es gibt im Wesentlichen zwei Arten, auf die postheroische Gesellschaft zu blicken. Die eine betont ihre Errungenschaften: den zivilisatorischen Fortschritt, der mit dem Abbau autoritärer und patriarchalischer Strukturen einhergeht, den Siegeszug von Individualisierung und Feminismus, die Stärkung von Minderheitenrechten, die gewachsene Sensibiliät für Opferperspektiven.
Die zweite Sichtweise ist eine Diagnose des Niedergangs: Konservative Denker wie der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld sehen Dekadenz, Verweichlichung und Feminisierung am Werk, Männer würden zu egozentrischen „Weicheiern“(Pussycats) erzogen, die Verteidigungsfähigkeit leide. Selbst die moralische Überlegenheit des Westens gehe verloren. Denn wo keine Gefallenen mehr toleriert würden, werde der Krieg technisiert und entmenschlicht, machten Drohnen und Roboter aus sicherer Enfernung die Drecksarbeit, Kollateralschäden inklusive. Es ist im Grunde das Bild, das auch Wladimir Putin vom Westen zeichnet.
In all diese Deutungsmuster bricht die Realität des Ukraine-kriegs ein, wirbelt Weltbilder und Überzeugungen durcheinander. Die Frage ist, was das mit uns macht. Die „Zeitenwende“verschiebt bereits allmählich, aber spürbar unser Koordinatensystem: Das Verhältnis zur Bundeswehr wandelt sich ebenso wie das Image von Rüstungskonzernen. Für Waffenlieferungen an die Ukraine gibt es satte Umfrage-mehrheiten, und die Frage, wie Deutschland sich im Falle des Falles verteidigen sollte, ist längst nicht mehr so theoretisch wie noch vor wenigen Jahren. Die ersten zaghaften Debatten über eine Rückkehr der Wehrpflicht zeigen, wie gründlich scheinbare Gewissheiten hinterfragt werden.
Doch ob und wie weit dieser Weg wirklich aus der radikal-postheroischen Rolle heraus führt, ist offen – und ob es ein gesellschaftlicher Fort- oder Rückschritt wird, ebenso. Eine Remilitarisierung und Rückkehr zu überkommenen Rollenbildern und Werten wie Kadavergehorsam braucht niemand, schon gar nicht in Deutschland. Doch eine Besinnung darauf, dass es Demokratie, Freiheit und Wohlstand nicht selbstverständlich zum Nulltarif gibt, könnte tatsächlich heilsam sein. Schon die Konflikte der Corona-pandemie haben Gräben gerissen und schmerzhafte Fragen aufgeworfen, was diese Gesellschaft eigentlich zusammenhält, worauf wir uns eigentlich noch einigen können, wie weit Solidarität trägt. In der Beliebigkeit des postheroischen und neoliberalen Gesellschaftsmodells ist ein Werte-vakuum entstanden, das Individualisierung und Rückzug ins Private, asymmetrische Demobilisierung und Pragmatismus, „Geiz ist geil“und „Ich bin doch nicht blöd“nicht füllen können. Vielleicht ist das Irritierende am Kampf der Ukrainer nicht so sehr ihr Heldenmut – sondern, dass sie so genau zu wissen scheinen, wofür sie kämpfen und was sie da verteidigen: Demokratie, Freiheit und Liberalität, eben jene Werte, die allzu viele hier geringschätzen oder gar mit Füßen treten.
Und vielleicht sind die neuen Helden, die eine post-postheroische Gesellschaft wirklich braucht, nicht solche, die mit Schwert und Schild ihre Feinde niedermachen – sondern solche, die uns mit ihren Überzeugungen und Werten begeistern und mitreißen. Also Politiker und Menschen, die nicht nach Umfragen schielen und den Menschen nach dem Mund reden, sondern vorangehen und für etwas einstehen.
Denn eine Gesellschaft, die zurückfällt in Militarismus, Nationalismus und den Muff von einst braucht keiner. Eine, die weiß, was ihre unverhandelbaren Werte und Ideale sind, die es mit aller Macht zu verteidigen gilt, allerdings sehr wohl.
Es ist ein Vakuum der Werte entstanden, das der Rückzug ins Private, Pragmatismus und „Geiz ist geil“nicht füllen.