Der Krieg und die Scheinsicherheit
Die Zeitenwende hat die Agenda von Ministerpräsident Kretschmann kräftig durcheinandergewirbelt. Noch kommt Baden-württemberg gut durch die Krise, der Sorgenpegel steigt aber – in den Tafelläden, bei Bürgermeistern und in den Betrieben. Eine Reise durch e
Donnerstag, kurz nach 9 Uhr. In knapp einer Stunde öffnet der Tafelladen in der Hauptstätter Straße am Rande der Stuttgarter City, und obwohl heute nur Bedürftige eingelassen werden, deren Nachname mit den Buchstaben L-Z beginnt, hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Die Ersten warten bei frostigen Temperaturen seit 7 Uhr in der Früh.
Drinnen kümmert sich Nathalie Genay um das Brot und die Backwaren, die in den Verkauf gehen sollen. „Drei Packungen = 10 Cent“steht über dem Regal mit „Golden Toasts“, über Brötchentüten der Hinweis, dass die Abgabe auf eine limitiert ist. Die Regale für Obst und Gemüse sind dagegen leer, da an diesem Morgen kein Großmarkt Äpfel oder Gurken übrig und gespendet hat. Seit der gestiegenen Inflationsrate kalkulieren Hersteller und Supermärkte sparsamer.
Nathalie Genay engagiert sich seit 13 Jahren im Tafelladen, die letzten beiden Jahre waren die härtesten: „Erst Corona, dann der Ukraine-krieg: Wir sind total am Limit!“Sie frage sich, wie es weitergehen solle, wenn immer noch mehr Menschen kommen. Innerhalb eines Jahres hat sich die Anzahl der mit einem Berechtigungsausweis ausgestatteten Kunden auf 2000 am Tag verdoppelt, über die Hälfte sind Geflüchtete aus der Ukraine. Jeden Tag kommen neue hinzu.
Das Prinzip der Tafel ist es, Lebensmittel, die sonst auf dem Müll landen würden, einzusammeln und sie in eigenen Läden an Bedürftige gegen einen kleinen Betrag abzugeben. Schon vor dem Krieg waren die vier Läden der Schwäbischen Tafel in Stuttgart stark besucht. Nach Ankunft der ersten Flüchtlinge aus der Ukraine hat man erst die Öffnungszeiten verlängert, dann eine zusätzliche Kasse aufgemacht, schließlich die Buchstabenregel eingeführt. Die Schlange vor dem größten Laden an der Hauptstätter Straße ist trotzdem geblieben. Sie macht so die Not einer wachsenden Minderheit im reichen Baden-württemberg für viele sichtbar.
In wenigen Tagen jährt sich der russische Einmarsch in der Ukraine zum ersten Mal. Der Krieg ist weit weg und doch sehr nahe gerückt. Wie also wirkt sich die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 konstatierte „Zeitenwende“auf Baden-württemberg aus, auf sozial Schwache, Betriebe, Kommunen, Politik, die Stimmung im Land?
„Solange der Krieg andauert, wird der Sorgenpegel hochbleiben“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im Vorzimmer des Kabinettsraums in der Villa Reitzenstein. Vor ihm steht eine Kanne Tee, den Raum schmücken eine Europa-, eine Deutschland- und eine Baden-württemberg-flagge. Kretschmann, Jahrgang 1948, Kind von Vertriebenen, hatte sich schon Gedanken gemacht, ob das Narrativ vom Friedensprojekt Europa bei den jungen Leuten noch zieht. Jetzt sagt er: „Ich denke jeden Tag an die Ukraine, an die Schicksale der Menschen. Das sind Erzählungen, die wir noch aus den Kriegserzählungen unserer Eltern und Großeltern kennen. Das ist jetzt auf einmal wieder Realität, das ist schockierend.“
Die Zahl der Krisen steigt ständig
Zu seiner Zeit als Lehrer hat er mit seinen Schülern viel über Krieg diskutiert, die Gewaltfrage, Meta-fragen der internationalen Ordnung. Als Ministerpräsident muss er sich seit dem Ukraine-krieg auch mit den konkreten Auswirkungen auf das Alltagsleben in Baden-württemberg beschäftigen. Sogar Stromspartipps hatte die Regierung angesichts eines befürchteten Gasmangels vor dem Winter gegeben. Konsterniert musste Kretschmann zur Kenntnis nehmen, dass ihn der harmlos-saloppe Hinweis, dass auch der Waschlappen eine brauchbare Erfindung sei, zur Zielscheibe von Kritik machte.
Baden-württemberg als Land der Exportweltmeister war es lange gewohnt, auf der Sonnenseite der Globalisierung zu stehen. Billiges Gas aus Russland beziehen, teure Autos nach China verkaufen und so als Wirtschafts-musterländle glänzen: Das war das Geschäftsmodell. Aber die Krisen der Welt rücken näher, die Taktfolge steigert sich: Finanzmarktkrise, Flüchtlingskrise, Klima-krise, Corona-krise,
nun die Ukraine-krise. Jede bringt Zumutungen mit sich.
Kretschmann hält dem Dauerkrisenmodus ein Hölderlin-zitat entgegen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“Auf Baden-württemberg gewendet, sagt er: „Wenn ich zurückdenke, welche Sorgen wir zu Beginn des Krieges hatten, wie uns Energieknappheit in Baden-württemberg zusetzen und was alles aus dem Ruder laufen könnte, dann können wir heute feststellen: Wir haben das als Gesellschaft bislang gut gemeistert.“Heute sei Superbenzin so teuer wie vor dem Krieg. Baden-württemberg habe mehr Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen als ganz Frankreich, ohne dass das zu Verwerfungen geführt habe. „Das alles zeigt: Wenn man in Krisen zusammensteht, kann man sie auch bewältigen. Ja: Krisen können auch Chancen sein, wenn man die Defizite angeht, die sich in Krisen viel deutlicher zeigen, als wenn sie sich nur langsam ausbreiten.“
Bei Klaus Holaschke fällt der Blick auf das Erreichte positiver aus als der Blick nach vorn. „Die Solidarität der Bürger ist riesig. Die Bereitschaft, private Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, ist ganz anders als während der Flüchtlingskrise 2015/16“, sagt der parteilose Oberbürgermeister der 23 000-Einwohner-stadt Eppingen in seinem Amtszimmer. „Wir beobachten inzwischen aber auch Ermüdungen bei Privatleuten, die für Ukrainer das Kinderzimmer freigeräumt haben. Je länger der Krieg dauert, umso mehr wächst der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität.“
238 Geflüchtete aus der Ukraine und 125 Flüchtlinge aus anderen Teilen der Welt leben derzeit in der Kraichgaustadt. Holaschke versucht, alle menschenwürdig unterzubringen; in der nächsten Gemeinderatssitzung steht mal wieder der Kauf eines Gebäudes auf der Tagesordnung, um mehr Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Er kämpft auch darum, für alle, auch die ukrainischen Kinder, Kita-plätze anzubieten. Aber er hat nicht das Gefühl, dass Politik und Bürokratie es ihm einfach machen. Zum 1. Februar 2023 etwa hat die Stadt eine bislang kirchliche Kita übernommen, infolge des Wechsels musste der Betrieb neu genehmigt werden. Nun heißt es, es würden zwei Toiletten fehlen, die Stadt musste deshalb eine von fünf Gruppen schließen. „In diesen Krisenzeiten sollte man uns Bürgermeister machen lassen und uns nicht noch Steine in den Weg legen“, fordert Holaschke.
Auch die Unterbringung der Geflüchteten wird zunehmend zum Problem. „Wir kaufen an Gebäuden auf, was wir aufkaufen können. Wir wissen aber heute nicht, wie wir weitere Flüchtlinge unterbringen sollen.“Das Szenario Hallenbelegung rücke damit näher, jetzt, wo Sport- und Musikvereine nach zwei Corona-jahren die Hallen wieder nutzen können. „Ich fürchte nur, dass das sozialen Sprengstoff hat.“
Unter Druck steht mit der Autobranche auch die Leitindustrie des Landes. Der Wandel vom Verbrenner zur Elektromobilität stellt die Geschäftsmodelle vieler Zulieferer infrage, sie müssen in zukunftsträchtige Produkte investieren, die zunächst aber wenig Gewinne abwerfen. In dieser Lage setzten die infolge des Krieges gestiegenen Energiepreise die Zulieferer zusätzlich unter Druck, sagt der Gesamtbetriebsratschef von ZF Friedrichshafen, Achim Dietrich. Denn sie könnten die Kosten nicht weitergeben und blieben auf dem Delta sitzen. „Ein bis zwei Prozent Rendite reichen halt nicht, um die Zukunft zu finanzieren. Dafür musst Du nicht studiert haben“, sagt Dietrich im Esslinger Neckarforum bei einer Tagung der IG Metall mit Betriebsräten aus dem ganzen Land.
Selbst bei ZF, einem Stiftungsunternehmen, 40 Milliarden Jahresumsatz, 10 000 Mitarbeiter in Friedrichshafen, 50 000 in Deutschland, 157 000 weltweit, müssen die Betriebsräte neuerdings um Standorte kämpfen. Nach zwei, drei Krisenjahren, sagt Dietrich, sei die Zündschnur bei der Geschäftsführung kürzer geworden. Die Kollegen würden derzeit Überstunden „kloppen“und deshalb in „Scheinsicherheit“leben. Aber die Wertschöpfungsverluste würden sich ab 2025 ansteigend auswirken. Rechnerisch könnte das allein bei ZF in Deutschland 8600 Jobs kosten. Dietrich und die IG Metall dringen deshalb darauf, dass ZF und die anderen Zulieferer hierzulande in Zukunftsfelder investieren, statt Arbeitsplätze zu verlagern.
Das Russlandgeschäft von ZF ist dem Krieg zum Opfer gefallen, aber der Verlust verkraftbar. „Wenn die Geschäfte mit China wegen eines möglichen TaiwanKonflikts tangiert würden“, sagt Dietrich, „wären wir ganz anders betroffen“.
Wenn man in Krisen zusammensteht, kann man sie auch bewältigen. Krisen können auch Chancen sein. Winfried Kretschmann (Grüne) Ministerpräsident
In Krisenzeiten sollte man uns Bürgermeister machen lassen und uns nicht noch Steine in den Weg legen. Klaus Holaschke Bürgermeister von Eppingen
Ein bis zwei Prozent Rendite reichen halt nicht, um die Zukunft zu finanzieren. Dafür musst Du nicht studiert haben. Achim Dietrich Gesamtbetriebsratschef von ZF