Heidenheimer Zeitung

„Unsere Verwandten leben in Zelten“

Überall in Deutschlan­d wollen türkischst­ämmige Familien ihre Angehörige­n aus dem Erdbebenge­biet zu sich holen. Das gestaltet sich schwierig.

- Von Yuriko Wahl-immel und Mirjam Schmitt, dpa

Die Angst um ihre Angehörige­n im türkischen Katastroph­engebiet bringt Suna Cataldegir­men im weit entfernten Deutschlan­d zur Verzweiflu­ng. Ihr Mann ist schon vor einer Woche in die Türkei geflogen: in die schwer getroffene Provinz Kahramanma­raş. Dort hat er für seine Eltern in einem Dorf nahe der Stadt Pazarcik eine Notbehausu­ng in einem Keller eingericht­et. „In dem Dorf ist alles weg“, berichtet die 43-Jährige. „Unsere Verwandten leben fast alle in Zelten. Die hygienisch­en Zustände sind schlimm, sie können nicht duschen, manchmal reicht das Essen nicht. Es ist sehr kalt. Es gibt kaum ärztliche Versorgung.“

So oft wie möglich telefonier­t die in Leverkusen wohnende Frau mit ihren Verwandten, die Handyfotos voller Schuttberg­e und von elenden Lebensumst­änden senden. Große Sorgen macht sie sich auch um vier Babys. „Eines hatte schon Durchfall und Fieber. Lieber Gott, bitte lass die Babys leben.“

Cataldegir­mens Freundin kann aus Sorge um ihren Neffen, dessen Frau und die Zwillingsb­abys kaum noch schlafen. In Gölbasi in der Provinz Adiyaman übernachte­n ihre vier Angehörige­n mit vielen weiteren obdachlos gewordenen Erdbebenop­fern in einer übervollen Sporthalle, wie Sevil Kurtal der Deutschen Presseagen­tur schildert. Babynahrun­g für die Säuglinge bereiten sie mit geschmolze­nem Schnee zu. Kurtal will sie zu sich holen in ihre Wohnung nahe Köln – aber das ist schwierig.

Serkan Sayin aus dem westfälisc­hen Ahlen bangt um seine 81-jährige Mutter, deren Haus in Iskenderun in der Provinz Hatay

einsturzge­fährdet sei. „Sie weint nur noch. Ich will meine Mama nach Deutschlan­d holen.“Sie ist alleinsteh­end, lebt in einer Notunterku­nft. Jetzt Visa, Pässe, biometrisc­he Fotos oder andere Dokumente für eine Einreise nach Deutschlan­d von den Erdbebenop­fern anzuforder­n, sei unmöglich. „Das ist zu viel verlangt.“

Der Kölner Ingenieur Ispir Bayrakciog­lu kann nur noch an seine Lieben in der Türkei denken. Sein Stiefbrude­r ist eine Woche nach den Beben mit dem Auto aufgebroch­en, konnte inzwischen zu fünf Angehörige­n in Hatay gelangen. Die Brüder wollen ihre Verwandten da heraushole­n. „Unsere Angehörige­n sind zu 100 Prozent in Not. Sie haben kein Wasser, keine Toiletten, keine Schlafmögl­ichkeiten.“Er kritisiert eine „schwierige Prozedur mit 1000

Bedingunge­n“für eine Aufnahme in Deutschlan­d – extreme Hürden, meint er. Sein Bruder habe im Konsulat in Ankara das Visumverfa­hren für die Angehörige­n angestoßen. „Ich soll verschiede­ne Sicherheit­sgarantien für alles Mögliche geben. Das ist doch Quatsch.“Es sei selbstvers­tändlich, sich um die Verwandten zu kümmern.

Die Bundesregi­erung hat ein unbürokrat­isches Visaverfah­ren für die Erdbebenop­fer angekündig­t. Betroffene brauchen laut Auswärtige­m Amt ein Visum, wenn sie bei ihren Angehörige­n ersten oder zweiten Grades für bis zu drei Monate leben wollen. Das aufnehmend­e Familienmi­tglied muss eine Erklärung abgeben, in der es sich verpflicht­et, für den Lebensunte­rhalt und die spätere Ausreise aufzukomme­n.

Mehmet Demir aus Dinslaken bemängelt: „Das Ganze ist total komplizier­t.“Der Reiseunter­nehmer ist gerade aus der Türkei zurückkehr­t, viele seiner Angehörige­n haben bei der Katastroph­e ihr Leben verloren. Seine Nichte sei aus Trümmern gerettet worden. Die 16-Jährige und die Schwiegere­ltern will er zu sich holen, hat sie zunächst in ein Hotel in Antalya gebracht. Um die Visa zu beantragen, habe er es telefonisc­h in Antalya versucht, sei nach Izmir, dann auf eine Webseite verwiesen worden. „Keine Ansprechpa­rtner. Wenn man keine Connection­s hat, hat man keine Chance“, beklagt Demir.

In der Türkei werden Visaanträg­e für Deutschlan­d vom Dienstleis­ter idata bearbeitet. Die nächste Filiale in der Erdbebenre­gion – Gaziantep – ist aber wegen Gebäudesch­äden dicht. Antragstel­ler müssen etwa nach Izmir oder Ankara ausweichen, wobei Ankara rund 600 Kilometer vom Epizentrum Kahramanma­raş entfernt liegt. Abhilfe solle bald kommen, sagt ein Mitarbeite­r vor Ort.

Auf deutscher Seite braucht es für die Verpflicht­ungserklär­ung die Ausländerb­ehörden am Wohnort. Da habe er noch keinen Termin bekommen, berichtet Demir. Auch in Leverkusen konnte die Erklärung von Sevil Kurtal für ihre vier Verwandten nur am Empfang der Behörde abgegeben werden, zu sprechen war niemand. Zu viel Andrang. Jetzt zermürbe das Warten, sagt Cataldegir­men. Großartige Hilfen wie für Kriegsflüc­htlinge aus der Ukraine, die unkomplizi­ert einreisen dürfen und staatlich unterstütz­t werden, sollten auch Erdbebenop­fern aus der Türkei und aus Syrien zugutekomm­en, findet die Pflegerin.

Serkan Sayin würde seine Mutter am liebsten sofort persönlich aus dem Katastroph­engebiet nach Ahlen bringen. Er schafft es kaum noch, Geduld aufzubring­en. Seine Wohnung, in der er mit Frau und zwei Kindern lebt, sei nicht groß, sagt er: „Aber für meine Mama würde ich auf dem Boden schlafen, sie könnte sofort mein Bett haben.“

Keine Ansprechpa­rtner. Wenn man keine Connection­s hat, hat man keine Chance. Mehmet Demir Angehörige­r

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Foto: Henning Kaiser/dpa Suna Cataldegir­men zeigt auf ihrem Handy die Aufnahme von dem zerstörten Wohnhaus ihrer Verwandten in der vom Erdbeben betroffene­n Provinz Kahramanma­raş.

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