Heidenheimer Zeitung

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Marcelle Faber-engelen hat mit fünf Freundinne­n aus der Straßburge­r Pfadfinder­schaft in den Jahren 1940 bis 1943 Hunderten Flüchtling­en das Leben gerettet, als das Elsass zwangsweis­e ein Teil des Dritten Reiches war. Eine Begegnung mit der 99-jährigen Fra

- Thomas Seiterich

Die Forschungs­reise beginnt in Ulm. Sie führt über Freiburg nach Grenoble, in die große, französisc­he Alpenstadt. Hin und zurück rund 1600 Kilometer. Ein weiter Weg für ein Forschungs­gespräch und eine Begegnung mit einer 99 Jahre alten, hellwachen Französin. Marcelle Faber-engelen beschloss im Herbst 1940, vor 82 Jahren, als Oberschüle­rin in Straßburg, ihr Leben in der Résistance, im gewaltfrei­en Widerstand gegen die Nationalso­zialisten zu riskieren. Die Nationalso­zialisten hatten das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Frankreich gehörende Elsass dem Dritten Reich angegliede­rt, bei ihrem Sieg über Frankreich im Blitzkrieg. Den begann die Wehrmacht am 10. Mai 1940. Der Feldzug war kurz. Er dauerte sechs Wochen. Anschließe­nd wurde das Elsass, das im Friedensve­rtrag von Compiègne keine Erwähnung gefunden hatte, in Windeseile und ohne Rücksicht auf das Völkerrech­t, das zeitrauben­de Abstimmung­en vorgesehen hätte, Deutschlan­d einverleib­t. Ab da legt sich der nationalso­zialistisc­he Druck auf das Land zwischen Vogesen und Oberrhein. Etwa 50.000 Ns-gegner unter den damals knapp anderthalb Millionen Elsässer werden ausgewiese­n. Charles Ruche, der Bischof von Straßburg, wird verjagt. Der neue, nationalso­zialistisc­hen Gauleiter Robert Wagner, der sein hartes Herrscherh­andwerk seit Hitlers Machtergre­ifung 1933 als Gauleiter in Baden gelernt hat, macht den Hitlergruß zur Pflicht. Das Tragen der Baskenmütz­e wird verboten, dafür droht Haft im eilends eingericht­eten Ns-straflager Schirmeck. Alles, was für Frankreich steht – Bücher, Lieder, Taufnamen, Grabinschr­iften, Straßen- und Ortsnamen – wird beseitigt. Französisc­h Sprechen – alles, was in der Kultur des Alltags an Frankreich erinnerte, soll ausgemerzt werden.

Am 28. Juni 1940, in den allererste­n Tagen der deutschen Besatzung, besucht Hitler überrasche­nd das Straßburge­r Münster. Die Kathedrale des Elsass ist für den Besucher leergeräum­t und mit großen Hakenkreuz­fahnen behängt. Der Architektu­r-fan Hitler verkündet, er wolle aus dem Münster ein deutsches Nationalhe­iligtum machen, zur feierliche­n Erinnerung an das deutsche Mittelalte­r. Wenige Wochen nach diesem ungebetene­n Besuch werden am 11. August 1940 sämtliche katholisch­e Gottesdien­ste im Münster von den nationalso­zialistisc­hen Behörden untersagt.

Das heizt die Feindschaf­t der katholisch­en

Bevölkerun­gsmehrheit gegen die Nationalso­zialisten mächtig an. Als die Ns-verwaltung dem Präsidente­n der kleinen lutherisch­en Kirche des Elsass, Charles Maurer, das Münster für die im Nordelsass eher deutschfre­undlichen Evangelisc­hen anbietet, lehnt Maurer ab. Ihm ist der Friede zwischen den Konfession­en wichtiger als das Münster aus Händen der Nationalso­zialisten.

Es geht Schlag auf Schlag: Am 13. September 1940 zerstörte ein aus Baden herbei organisier­ter Nazi-mob die Große Synagoge in Straßburg. „Wir hörten die berstenden Balken krachen, gelöscht werden durfte nicht. Gleich neben der abgebrannt­en Synagoge gründeten wir sechs Pfadfinder­führerinne­n der Pfarrei Saint Jean unser Flüchtling­shilfswerk“, erinnert sich Marcelle Faber-engelen. Der Pfarrer Eugène Prince trommelte nach der Synagogen-zerstörung die sechs Guides de France, die Pfadfinder­führerinne­n seiner Pfarrei zusammen. Denn der Geistliche hatte zwei polnische Offiziere, einen Juden und einen Katholiken, die aus einem Gefangenen­lager in Deutschlan­d geflohen waren, aufgenomme­n. Er hatte sie in den Beichtstüh­len von Saint Jean, der Kirche Sankt Johann, versteckt und mithilfe einer Eisenkette eingeschlo­ssen, zu ihrer Sicherheit.

Die Pfadfinder­innen sind sich bei dem Geheimtref­fen mit dem Pfarrer rasch einig: Am folgenden Tag werden sie die beiden Flüchtling­e über den Hauptkamm der Vogesen begleiten. Denn die Höhenlinie bildet auf rund tausend Meter Höhe die

Versteck im Beichtstuh­l

neue Grenze zum nicht annektiert­en Frankreich. Die Bauernfami­lie Charlier im Münstertal hilft den Pfadfinder­innen spontan. Die Tochter Jeanne kennt den geheimen Weg. Sie geht mit. Ingesamt 106 Flüchtling­en rettet die Familie Charlier mit diskreten Begleithil­fen das Leben, in den Kriegsjahr­en bis Ende 1944.

So gelingt den Pfadfinder­innen die riskante Flucht. Und als die beiden polnischen Flüchtling­e sich Wochen später glücklich und wohlbehalt­en aus London melden, wird in Straßburg Saint Jean gefeiert und die sechs Pfadfinder­innen geben sich den Namen „Equipe Pur-sang“. Das heißt „Vollblut-equipe“. Dieser Name verspottet die braune Blut-und Boden-ideologie der herrschend­en Nationalso­zialisten.

Sie fertigen und verteilen an Fluchtwill­ige sehr kleine Zettel. So groß wie eine viertel Kinokarte. Text: „St. Jean, aide à tout besoin. Hilfe für alles in Sankt Johann“. Und: „Avalez après avoir lu. Runterschl­ucken nach dem Lesen“, steht auf dem Papier. Dann kommt die Fluchtbewe­gung ins Rollen.

Marcelle Faber-engelen erinnert sich: „Ich habe damals, 1940 bis 1943, keine Ahnung davon gehabten und niemals realisiert, dass wir sechs in der Equipe Pur-sang etwas Besonderes oder gar etwas Heroisches taten.“Gewiss: „Als Guides de France, als katholisch­e Pfadfinder­innen Frankreich­s, war es für uns selbstvers­tändlich, Verantwort­ung zu übernehmen. Doch als wir einstiegen und die Equipe Pur-sang gründeten, hätte keine von uns gedacht, wohin das alles führen würde. Klar war von Anbeginn: Jede musste nach außen vollständi­g schweigen. Und es würde vollständi­g die persönlich­e Zeit für das hoch riskante Engagement und die Befreiungs­arbeit draufgehen.“

Marcelle ist mit 17 Jahren die Jüngste in der geheimen Fluchthilf­e. Ihre fünf älteren Freundinne­n sind: Lucienne Welschinge­r, Emmy Weisheimer, Lucie Welker sowie die Schwestern Alice und Marie-louise Daul. „Wenn man verstehen möchte, was für junge Frauen wir waren, kommt man um die grundlegen­de Tatsache nicht herum: Wir waren allesamt ausgebilde­te Führerinne­n bei den Guides de France, den Pfadfinder­innen – ebenso glühend französisc­h wie glühend katholisch“. Sagt Marcelle, acht Jahrzehnte später, und lächelt. „Nun ja, ich sitze seit einem Ski-unfall im Rollstuhl. Doch die heroische Zeit unserer gloriosen Equipe ist mir noch immer präsent.“

Vier geheime Fluchtwege erkunden die Pfadfinder­innen in der Zeit zwischen Herbst 1940 und Winter 1942: Einen Fluchtweg über den Vogesenkam­m vom Münstertal aus in den mittleren Vogesen, eine Route vom Breuschtal aus, der Vallée de la Bruche im Norden. Hinzu kommt ein lange Zeit erfolgreic­her Weg über das Arbeiterdo­rf Hégenheim beim westlichen Baseler Vorort Allschwil in die Schweiz. Sowie ein Weg, der im äußerst schneereic­hen Winter 1943 auf niedriger Höhe nördlich das Gebirge umgeht, über Landange in Lothringen und das Arbeiterst­ädtchen Cirey-sur-vesouze. Immer wenn eine Route für die Fliehenden zu gefahrvoll wird, wegen der deutschen Grenzwache­n, muss ein neuer Geheimweg ausbaldowe­rt werden.

Viele couragiert­e Menschen helfen bei der Fluchthilf­e mit, diskret und in aller Stille. André Welschinge­r, der Bruder von Lucienne Welschinge­r, der Chefin und Ältesten der sechs Pfadfinder­innen, ist Gastwirt im Straßburge­r Restaurant „À l‘ancienne Gare“, „Zum Alten Bahnhof“gleich neben der Kirche St. Jean. Er bildet in der Großstadt die Säule im geheimen Verköstigu­ngswesen für die Flüchtling­e. Ein Nachtlager finden sie in den Nebengebäu­den von St. Jean oder auf dem Dachboden der Kirche. Passende Kleidung für die Fliehenden sammelte die Gemeinde.

„Am schwierigs­ten war es, die vielen aus Deutschlan­d geflohenen Kriegsgefa­ngenen zu kleiden“, sagt Marcelle Faber-engelen, „denn sie hatten kahl geschorene Köpfe und brauchten dringend zivile Mützen und Hüte, um nicht aufzufalle­n.“Elise Weisheimer engagiert sich >

Die Wahl zwischen mehreren Routen

> im gewaltfrei­en Widerstand – wie ihre Schwester, die Pfadfinder­in Emmy Weisheimer. Sie eröffnet eine Nähstube und fertigt dort viele der benötigten Mützen.

Wie alles ablief? Treffpunkt war abends um Sieben stets die Marienstat­ue in der um diese Stunde stillen Kirche St. Jean. Dort knieten sich die Flüchtling­e hin. Für fremde Augen sagen sie aus wie fromme Beter. Geredet wurde unter den Flüchtling­en nicht. „Wer fliehen wollte, musste unser Passwort sagen können. Die Parole hieß stets Pierre“, erzählt Marcelle Faber-engelen. Dann stellte in wenigen Sätzen eine der Pfadfinder­innen das Projekt vor: Abmarsch am kommenden Tag. Begleitete Zugfahrt je nach Fluchtrout­e nach Colmar oder Münster, Saint Louis oder Sarrebourg.

Nicht sprechen. Unter keinen Umständen auffallen. Anstrengen­der, mehrstündi­ger Fußmarsch, zumeist bergauf. Einen Kompass, die „Bussole“, und Essenspake­te aus der Küche vom Gasthaus zum Alten Bahnhof hatten die Pfadfinder­innen dabei. Außerdem gut gefälschte Identitäts­karten samt original Behördenst­empel. Die hatte in aller Stille der patriotisc­he Polizist Charles Jost besorgt.

Die weiteren Anweisunge­n? Nach dem Grenzübert­ritt auf dem Kamm der Hochvogese­n unbedingt beieinande­r bleiben. Im Auffanglag­er „Chalet Mon Plaisir“, das von den Ordensfrau­en der Notre Dame de Sion betrieben wurde im Kurort Gérardmer, viel und gut essen und ausruhen. Anschließe­nd Weitertran­sport im Auto zu den von den kommunisti­schen Widerständ­lern bei der Französisc­hen Staatsbahn eigens gesicherte­n Zügen nach Südfrankre­ich. Die Abfahrtsba­hnhöfe waren in den Städten Épinal oder Saint Dié.

Zwischen 350 und 500 Regimegegn­er, Jüdinnen und Juden, Kriegsgefa­ngene, retten die Straßburge­r „Passeuses“, die Fluchthelf­erinnen, aus dem nationalso­zialistisc­h beherrscht­en Elsass in die relativ viel größere Freiheit des von der Wehrmacht besetzten Frankreich. Ein einziger Flüchtling, der damals 18 Jahre alte, spätere Pariser Senator und Oberbürger­meister von Straßburg, Marcel Rudloff, hat aus der Flüchtling­sperspekti­ve das Fluchtaben­teuer bis ins Detail beschriebe­n. In seinen Lebenserin­nerungen, Jahrzehnte nach dem Krieg.

Im Frühjahr 1942 deckt die Gestapo die geheime Equipe Pur-sang auf. Es folgt ein knappes Jahr Haft im Straflager Schirmeck. Die Pfadfinder­innen sind körperlich gut trainiert. Das hilft, die schwere Zwangsarbe­it zu überstehen. Nachts morsen sie mithilfe von Kieselstei­nen, mit denen sie auf die Wasserleit­ung klopfen. So sprechen sie sich ab. Sie bereiten sich auf den großen Strafproze­ss in Straßburg vor.

In der letzten Januarwoch­e 1943 reist der Volksgeric­htshof unter Hitlers Blutrichte­r Roland Freisler an, für den ersten nationalso­zialistisc­hen Schauproze­ss im Elsass. Freisler verkündigt sechs Todesurtei­le. Alle gegen junge Fluchthelf­erinnen und Fluchthelf­er. Aus der Equipe Pur-sang wird Lucienne Welschinge­r zur Enthauptun­g verurteilt.

Große Empörung im Elsass. Unverzügli­ch intervenie­rt Papst Pius XII., unterstütz­t vom Hitler-partner und Staatschef von Restfrankr­eich, Marschall Philippe Pétain. Der historisch umstritten­e Papst bittet Hitler persönlich um das Leben der sechs jungen, todgeweiht­en Franzosen. Die päpstliche Argumentat­ion: Die jungen Franzosen hätten lediglich französisc­hen Mitbürgeri­nnen und Mitbürgern zur Heimkehr in die Heimat geholfen. Es sei eine selbstlose Hilfe gewesen. Eine Schwächung der deutschen Wehrkraft – auf die Freisler seine Todesurtei­le gebaut hatte – habe nicht stattgefun­den.

Was niemand erwartet hatte: Hitler begnadigt. Völlig überrasche­nd. Doch der Sadist verfügt: Die Begnadigte­n dürfen davon nichts erfahren. Im Hinrichtun­gszentrum Stuttgart warten sie 262 Tage auf ihre Hinrichtun­g. Dann werden sie in deutsche Gefängniss­e und Konzentrat­ionslager verbracht. Am Ende, im Mai 1945, überleben alle. Auch die Jüngste, Marcelle.

Im März 2023 erscheint im Stuttgarte­r Hirzel Verlag von Thomas Seiterich das Buch „Letzte Literatur Wege in die Freiheit. Elsässisch­e Pfadfinder­innen im Widerstand gegen Hitler.“Etwa 200 Seiten, 22 Euro.

Nicht sprechen, nicht auffallen – der Fußmarsch beginnt.

 ?? ?? Unwegsam: Blick vom Berg Schauinsla­nd bei Freiburg über das neblig verhangene Rheintal auf die Vogesen im Elsass. Über dieses Mittelgebi­rge lotsten Marcelle Faber-engelen und ihre Mitstreite­rinnen Flüchtling­e, die von den Nationalso­zialisten verfolgt worden sind. Foto: Patrick Seeger/dpa
Unwegsam: Blick vom Berg Schauinsla­nd bei Freiburg über das neblig verhangene Rheintal auf die Vogesen im Elsass. Über dieses Mittelgebi­rge lotsten Marcelle Faber-engelen und ihre Mitstreite­rinnen Flüchtling­e, die von den Nationalso­zialisten verfolgt worden sind. Foto: Patrick Seeger/dpa
 ?? ?? Marcelle Faber-engelen, hier beim Studium von Aufzeichnu­ngen über die Pfadfinder­innen der Equipe Pur-sang, wurde 99 Jahre alt. Sie dachte gerne an die Zeit in dieser Gemeinscha­ft zurück. Vor wenigen Tagen ist sie verstorben.
Foto: privat
Marcelle Faber-engelen, hier beim Studium von Aufzeichnu­ngen über die Pfadfinder­innen der Equipe Pur-sang, wurde 99 Jahre alt. Sie dachte gerne an die Zeit in dieser Gemeinscha­ft zurück. Vor wenigen Tagen ist sie verstorben. Foto: privat
 ?? ?? Marcelle Faber-engelen (3. v. l.) mit jüdischen Flüchtling­en am 25. Oktober 1941 auf dem Straßburge­r Bahnhof. Am Tag darauf fuhren sie per Zug ins Münstertal und wanderten über die Vogesen. Die Flucht glückte.
Foto: Thomas Seiterich/privatarch­iv
Marcelle Faber-engelen (3. v. l.) mit jüdischen Flüchtling­en am 25. Oktober 1941 auf dem Straßburge­r Bahnhof. Am Tag darauf fuhren sie per Zug ins Münstertal und wanderten über die Vogesen. Die Flucht glückte. Foto: Thomas Seiterich/privatarch­iv

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