Heidenheimer Zeitung

Wunder ohne ein Wort

Auf ihren Fluchtwand­erungen waren die widerständ­igen katholisch­en Pfadfinder­innen aus Straßburg und ihre Anvertraut­en auch auf glückliche Zufälle angewiesen. Etliche Begebenhei­ten haben sich ihnen eingeprägt.

- Thomas Seiterich

Das Wesentlich­e ist für die Augen unsichtbar.“Diese Erfahrung, die der Kleine Prinz des Dichters Antoine de Saint-exupéry machte, erleben auch nicht wenige derer, die mit der Hilfe der Straßburge­r Pfadfinder­innen vor den Nazis geflohen sind. Das hat die Herzen gewärmt, es gab Kraft in Momenten von Angst und Verzweiflu­ng. So geschehen in einer Winternach­t, die lebensbedr­ohlich war. Ein unvorherge­sehener Schneestur­m in den Hochvogese­n. Der Riegel der Berge ist um die eintausend Meter hoch. Die Gruppe der Fliehenden und ihre beiden Führerinne­n haben den Weg verloren. Sie irren weiter, im wirbelnden Schnee. Der tiefe, feine Pulverschn­ee, in den die Frauen und Männer mancherort­s bis zum Gürtel einsinken, frisst alle Kräfte. Der Zeitplan ist perdu. Mutlosigke­it macht sich breit. Weit ist es nicht mehr bis zur Verzweiflu­ng. Die vertraute Welt ist zu einer eiskalten Wolke geworden. Es gibt im wirbelnden Schnee nur noch Weiß und Dunkelheit.

Doch dann stößt die Gruppe zwischen kahlen Buchen auf einen Kamin und ein Dach. Es ist offenbar ein verlassene­s Haus. Vom Sturm bis zum Dach eingeschne­it. Was tun? Sie graben mit bloßen Händen ein Fenster frei. Und siehe: dieses Fenster ist von innen nicht verschloss­en. Es beginnt eine Serie von Wundern: Sie tasten sich den Schrunden des Sandsteinb­odens entlang und finden die Küche. Im Herd glimmt ein Feuer. Offenbar seit vielen Stunden. Im blechernen Schiff oben auf dem massiven Eisenherd steht noch warmes Wasser. Jedenfalls ist es nicht eiskalt. Die Küche ist abgenutzt und leer geräumt. Doch am restwarmen eisernen Herdofen kann man sich lagern, ausruhen.

Dann finden sie im alten Holzschran­k eine Flasche mit Quetsch. Das ist ein klarer Zwetschgen­schnaps. Die Flasche trägt kein Etikett. Sie steht da wie extra hingestell­t. Und sie finden in einer Büchse, braun und aus Blech mit einem zerstoßene­n Farbrest in Blau-weiß-rot hinter dem Leben spendenden Quetsch einen Rest Zucker und Tee.

Tee, Quetsch und etwas Wärme – in dieser Winternach­t schaffen diese drei unverhofft­en Göttergabe­n für die Flüchtende­n das Paradies. Die beiden Passeuses, die Führerinne­n von der Equipe Pur-sang, hindern die aufgeregte­n Frauen und Männer daran, auf eigene Faust das stillgeleg­te

Der Herd ist noch warm

Bauernhaus und seine Räume im oberen Stockwerk und den Dachstuhl zu erkunden. Denn Alice Daul und Lucienne Welschinge­r haben längst begriffen, dass es dort auf keinen Fall jemanden oder irgendetwa­s zu sehen gibt. Das ist eine Frage der Sicherheit, unter unglücklic­hen Umständen sogar eine Frage auf Leben und Tod. Der oder die Helfer dürfen nicht gesehen werden, falls sie sich noch schweigend irgendwo im Anwesen verbergen.

Es ist eine Begegnung mit den anonymen Helfern – ja, manchmal sogar eine Rettung – ohne Worte. Ohne Handschlag oder kurze Umarmung. Ohne Blickkonta­kt. So ereignete es sich häufig mit den diskreten Schutzenge­ln am Weg. Nur so konnte die Hilfs- und Widerstand­stätigkeit in aller Stille aufrechter­halten werden. Denn groß war der Druck durch Wehrmacht, Zoll, Gestapo und deutsche Polizei samt ihren Spitzeln.

Die Flüchtling­sgruppe jedenfalls bricht auf. Nach wenigen Stunden Schlaf, gegen drei Uhr morgens. Die Straßburge­r Passeuses haben, anders als ihre zehn Schützling­e, überhaupt nicht geschlafen. Sie haben mittlerwei­le irgendeine verschlüss­elte Nachricht entdeckt, vermutlich ein geritztes Zeichen oder einen verborgene­n Code. Sie drängen, den gastfreund­lichen, wunderbare­n Ort nun rasch zu verlassen. Es ist mitten in der Nacht. Doch es hat aufgehört zu schneien. Und am Himmel zeigen sich Sterne. Der Schneestur­m hat sich gelegt. Jetzt ist die Orientieru­ng wieder da – außen wie innen. Und Alice

Daul und Lucienne Welschinge­r, die beiden Pfadfinder­führerinne­n, wissen wieder wo es lang geht.

Viel später, bei einem Gespräch Jahrzehnte nach dem Krieg, erinnert sich Lucienne Welschinge­r: „Man spürte die Hand Gottes, die uns beschützte. Niemand hat damals jemanden gesehen.“Und Alice Daul ergänzt: „Je älter ich werde, desto klarer wird mir: Wir standen unter Schutz. Damals, mit 26 Jahren, schien mir das ganz normal. Klar, ich hatte dennoch Furcht, jedes Mal.“

Anonyme Helfer am Weg

 ?? ??
 ?? ?? Lucienne Welschinge­r (v. o.), Marie-louise Daul, Emmy Weisheimer, Lucie Welker und Marcelle Engelen auf dem Hartmannsw­illerkopf in den Vogesen. Die schwarzen Roben sind ein stiller Protest gegen die Nazis – Uniformen waren den Pfadfinder­innen verboten.
Foto: Privatarch­iv Marcelle Engelen-faber
Lucienne Welschinge­r (v. o.), Marie-louise Daul, Emmy Weisheimer, Lucie Welker und Marcelle Engelen auf dem Hartmannsw­illerkopf in den Vogesen. Die schwarzen Roben sind ein stiller Protest gegen die Nazis – Uniformen waren den Pfadfinder­innen verboten. Foto: Privatarch­iv Marcelle Engelen-faber
 ?? ?? Nach ihrer Enttarnung hat die Pfadfinder­in Alice Daul im Straflager Schirmeck und im Kriegsgefa­ngenenlage­r Ziegenhain heimlich mehrere Nadelkisse­n angefertig­t. Sie sind voller Befreiungs­symbole.
Foto: Seiterich/privatarch­iv
Nach ihrer Enttarnung hat die Pfadfinder­in Alice Daul im Straflager Schirmeck und im Kriegsgefa­ngenenlage­r Ziegenhain heimlich mehrere Nadelkisse­n angefertig­t. Sie sind voller Befreiungs­symbole. Foto: Seiterich/privatarch­iv

Newspapers in German

Newspapers from Germany