Wunder ohne ein Wort
Auf ihren Fluchtwanderungen waren die widerständigen katholischen Pfadfinderinnen aus Straßburg und ihre Anvertrauten auch auf glückliche Zufälle angewiesen. Etliche Begebenheiten haben sich ihnen eingeprägt.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“Diese Erfahrung, die der Kleine Prinz des Dichters Antoine de Saint-exupéry machte, erleben auch nicht wenige derer, die mit der Hilfe der Straßburger Pfadfinderinnen vor den Nazis geflohen sind. Das hat die Herzen gewärmt, es gab Kraft in Momenten von Angst und Verzweiflung. So geschehen in einer Winternacht, die lebensbedrohlich war. Ein unvorhergesehener Schneesturm in den Hochvogesen. Der Riegel der Berge ist um die eintausend Meter hoch. Die Gruppe der Fliehenden und ihre beiden Führerinnen haben den Weg verloren. Sie irren weiter, im wirbelnden Schnee. Der tiefe, feine Pulverschnee, in den die Frauen und Männer mancherorts bis zum Gürtel einsinken, frisst alle Kräfte. Der Zeitplan ist perdu. Mutlosigkeit macht sich breit. Weit ist es nicht mehr bis zur Verzweiflung. Die vertraute Welt ist zu einer eiskalten Wolke geworden. Es gibt im wirbelnden Schnee nur noch Weiß und Dunkelheit.
Doch dann stößt die Gruppe zwischen kahlen Buchen auf einen Kamin und ein Dach. Es ist offenbar ein verlassenes Haus. Vom Sturm bis zum Dach eingeschneit. Was tun? Sie graben mit bloßen Händen ein Fenster frei. Und siehe: dieses Fenster ist von innen nicht verschlossen. Es beginnt eine Serie von Wundern: Sie tasten sich den Schrunden des Sandsteinbodens entlang und finden die Küche. Im Herd glimmt ein Feuer. Offenbar seit vielen Stunden. Im blechernen Schiff oben auf dem massiven Eisenherd steht noch warmes Wasser. Jedenfalls ist es nicht eiskalt. Die Küche ist abgenutzt und leer geräumt. Doch am restwarmen eisernen Herdofen kann man sich lagern, ausruhen.
Dann finden sie im alten Holzschrank eine Flasche mit Quetsch. Das ist ein klarer Zwetschgenschnaps. Die Flasche trägt kein Etikett. Sie steht da wie extra hingestellt. Und sie finden in einer Büchse, braun und aus Blech mit einem zerstoßenen Farbrest in Blau-weiß-rot hinter dem Leben spendenden Quetsch einen Rest Zucker und Tee.
Tee, Quetsch und etwas Wärme – in dieser Winternacht schaffen diese drei unverhofften Göttergaben für die Flüchtenden das Paradies. Die beiden Passeuses, die Führerinnen von der Equipe Pur-sang, hindern die aufgeregten Frauen und Männer daran, auf eigene Faust das stillgelegte
Der Herd ist noch warm
Bauernhaus und seine Räume im oberen Stockwerk und den Dachstuhl zu erkunden. Denn Alice Daul und Lucienne Welschinger haben längst begriffen, dass es dort auf keinen Fall jemanden oder irgendetwas zu sehen gibt. Das ist eine Frage der Sicherheit, unter unglücklichen Umständen sogar eine Frage auf Leben und Tod. Der oder die Helfer dürfen nicht gesehen werden, falls sie sich noch schweigend irgendwo im Anwesen verbergen.
Es ist eine Begegnung mit den anonymen Helfern – ja, manchmal sogar eine Rettung – ohne Worte. Ohne Handschlag oder kurze Umarmung. Ohne Blickkontakt. So ereignete es sich häufig mit den diskreten Schutzengeln am Weg. Nur so konnte die Hilfs- und Widerstandstätigkeit in aller Stille aufrechterhalten werden. Denn groß war der Druck durch Wehrmacht, Zoll, Gestapo und deutsche Polizei samt ihren Spitzeln.
Die Flüchtlingsgruppe jedenfalls bricht auf. Nach wenigen Stunden Schlaf, gegen drei Uhr morgens. Die Straßburger Passeuses haben, anders als ihre zehn Schützlinge, überhaupt nicht geschlafen. Sie haben mittlerweile irgendeine verschlüsselte Nachricht entdeckt, vermutlich ein geritztes Zeichen oder einen verborgenen Code. Sie drängen, den gastfreundlichen, wunderbaren Ort nun rasch zu verlassen. Es ist mitten in der Nacht. Doch es hat aufgehört zu schneien. Und am Himmel zeigen sich Sterne. Der Schneesturm hat sich gelegt. Jetzt ist die Orientierung wieder da – außen wie innen. Und Alice
Daul und Lucienne Welschinger, die beiden Pfadfinderführerinnen, wissen wieder wo es lang geht.
Viel später, bei einem Gespräch Jahrzehnte nach dem Krieg, erinnert sich Lucienne Welschinger: „Man spürte die Hand Gottes, die uns beschützte. Niemand hat damals jemanden gesehen.“Und Alice Daul ergänzt: „Je älter ich werde, desto klarer wird mir: Wir standen unter Schutz. Damals, mit 26 Jahren, schien mir das ganz normal. Klar, ich hatte dennoch Furcht, jedes Mal.“